Eva-Maria Berg   Leseprobe  
 
wir haben alle tiere
aufgegessen bis auf jene
die uns nicht schmecken
und haben die gewässer
leergetrunken bis auf jene
die salzig sind
nun stapeln wir
die häuser so hoch
dass wir den nächsten
globus erreichen
wo wir wieder
von neuem beginnen

in: poesiealbum neu „Klimawandel mit Donnerwetter“, 1/2023
Zeitschrift der Gesellschaft für zeitgenössische Lyrik e.V.
in der Edition kunst & dichtung, Leipzig 2023

* * *

es gibt keinen / rahmen ohne / innen und außen / der rand grenzt ab / grenzt ein grenzt aus / und hindert doch / niemanden ihn / zu überschreiten

in: Revue Alsacienne de Littérature N° 137
"marges", (1) 2022

* * *

orte für worte / wer kennt sie / nicht all ihre sagen / märchen geschichten / und denkt
sich / doch seine eigenen aus / ohne feen und ritter / zauber und kampf / platz um
platz / der den menschen einlädt / ihn aufzusuchen / ob einsam und still / belebt oder
laut / sich unmittelbar / berühren zu lassen / von seiner magie / und ihn entdecken /
wahrnehmen / betreten als wäre / dies immer / wieder von neuem / das erste
zugleich / das letzte mal

in: Revue Alsacienne de Littérature N° 136
„génie des lieux“ (2) 2021

* * *

jasmin ein ort
wer nicht fliegen
kann lügt statt
geschlossenen auges
wo auch immer er ist
seinem betörenden duft
zu folgen ihn inhalierend
in irgendeinem verruchten
café mit verschwommenen
blicken und gedämpften
stimmen zwischen wasser
pfeifen die den raum
vernebeln ohne den blüten
ihren zauber zu nehmen

in: Revue Alsacienne de Littérature N° 136
„génie des lieux“ (2) 2021

* * *

vielleicht gibt es
noch das blau
die tür mit
namensschild
unleserlich
der hinweis
nirgends zu
läuten bis
sich der eingang
öffnet von selbst
vielleicht gibt es
noch das rot
des flurs mit
blindem spiegel
der allen die nicht
hineinschauen
möchten
ihr wahres
gesicht zeigt

in: Revue Alsacienne de Littérature N° 136
„génie des lieux“ (2) 2021

* * *

das schiff versunken
doch nirgends
ein meer die mauer
trunken am platz
St-Sulpice poesie
ein rausch weder
schall noch rauch
bestürzt alle ohren
und verheißt
die bittere sonne
der gezeiten
hat weder heute
noch irgendwann
ausgeweint

poème mural: Le bateau ivre d´Arthur Rimbaud
rue Férou Paris, du côté de la Place St-Sulpice

in: Revue Alsacienne de Littérature N° 136
„génie des lieux“ (2) 2021

* * *

als der wind
verstummte
begannen
die flügel
sich zu drehen
und die luft
zu mahlen
um die menschen
zu beatmen
wenn schon
nicht zu
ernähren

Place des Moulins, Marseille

in: Revue Alsacienne de Littérature N° 136
„génie des lieux“ (2) 2021

* * *

die straßen blockiert
hände hoch
vom steuer
zu fuß unterwegs
der kopf ohne navi
sucht die richtung
und dauer
schwer trägt sich
der rucksack
voller schuhe
für all die menschen
auf bloßen sohlen
einen teppich
ausrollen
in purpurrot
mit blüten
bestreut
von der ersten
und letzten
paradiesischen
zeit


les routes bloquées
les mains enlevées
du volant
marchant
sans navigateur la tête
cherche la direction
et la durée
lourd à porter
le sac à dos
rempli de chaussures
pour tous les hommes
pieds nus
dérouler
un tapis
de pourpre
parsemé
de fleurs
du premier
et du dernier
temps
paradisiaque

traduit grâce á l´aide de Max Alhau
in: Décharge N° 189, 2021

* * *

der baum

der baum ist
entwurzelt doch
statt zu stürzen
kehrt er sich um
und steht auf
der krone sein stamm
zeigt nach oben
und trägt alle
reste des erdreichs
wie kostbare früchte
die niemand
ihm raubt

die straßen
tragen die namen
der bäume damit
die menschen
sich ihrer
erinnern steht
an jeder ecke
modell um modell
so riesengroß
dass es den hoch
häusern schatten
spendet


l´arbre

l´arbre est
déraciné mais
au lieu de s’abattre
se retourne
et se pose sur
la couronne son tronc
poind vers le haut
et porte tous
les restes de la terre
comme des fruits précieux
que personne
ne lui dérobe

les rues
révèlent les noms
des arbres afin que
les hommes
se souviennent
d´eux se tient
à chaque coin
modèle par modèle
si gigantesque
qu´elle offre
de l´ombre
aux gratte-ciel

traduit en coopération de Luc Vidal

dans: Bacchanales N° 63
au sujet „Nature & poésie“

* * *

sich im kreis drehen drehen drehen
als ließe sich dem verlies entkommen
im taumel der sprache nur den fluss
in sich spürend und türmen türmen
mit geschlossenen augen hinaus
ins offene

in: poesiealbum neu / Poesie & Narrheit
Anlässlich der 250. Wiederkehr von Hölderlins Geburtstag
ist ihm diese Ausgabe gewidmet.
02/2020, S.42

* * *

donner des images à l´imaginaire

jeden tag
etwas anderes
sehen im gleichen
bild grün statt
blau quer statt
längs schmal
statt breit öl
acryl oder tinte
glatt oder rauh
trocken feucht
jeden tag
beginnen
mit der neuen
entdeckung
an der wand
auf dem tisch
am boden
im freien
sich berühren
lassen augen
hände bewegen
als sei wahrnehmung
festzuhalten

in: Revue Alsacienne de Littérature N° 133 «images – imaginaires» (1) 2020

* * *
der phantasie bilder geben – donner des images à l´imaginaire

und die gleiche
gestalt so wie
ein vogel dem
anderen gleicht
vielleicht
die gestalt
in gestalt
eines vogels

in: Revue Alsacienne de Littérature N° 133 «images – imaginaires» (1) 2020

* * *

der phantasie bilder geben – donner des images à l´imaginaire

da ist papier
zu baum geworden
das nest das obst
blätter die äste
das kind erstaunt
mit großen augen
es klettert
schon hinauf

in: Revue Alsacienne de Littérature N° 133 «images – imaginaires» (1) 2020

* * *

der phantasie bilder geben – donner des images à l´imaginaire

körper
sprache
sagt
der tänzer
bescheiden
und es fehlt
an worten
seine virtuosität
zu beschreiben

in: Revue Alsacienne de Littérature N° 133 «images – imaginaires» (1) 2020

* * *

aus dem leeren raum
noch atem schöpfen
ohne ihn all jenen
zu rauben die bereits
an schläuchen hängen
der letzten nabelschnur
des menschen

par l´espace vide
encore prendre son souffle
sans en priver
tous ceux qui sont déjà
branchés à des tuyaux
le dernier cordon ombilical
de l´être human

in: Recours au Poème N° 201 Mars/Avril 2020
Journal de confinement de nos collaborateurs

* * *

wenn sogar
die wetter
vorhersage recht

behält der sturm
häuser abdeckt
und die bewohner
an die luft setzt

könnten prognosen
auch übereinstimmen
mit dem ergebnis
der wahl anderntags

flöge das ei
zurück ins nest

die katze ließe
ab von der maus
ein befehl würde
die eigene handschrift
löschen


puisque même
les prévisions
de la météo tombent juste

que la tempête
détruit les maisons
et souffle
sur les habitants

les pronostics ne pourraient-ils
aussi être d’accord
avec les résultats
des élections un autre jour

l´oeuf volerait
vers le nid

le chat lâcherait
la souris
un ordre effacerait
son écriture
propre


Traduction: André Ughetto et l´auteur

in: Phoenix N° 33, 2020

* * *

selbst palmen
verneigen sich
ungestüm
die schreie
der möwen
warnen davor
den fang
anderen
zu überlassen
wer jetzt im cockpit
kein fenster
hat simuliert
sich leicht
das blaue
vom himmel

même les palmiers
s´inclinent
impétueusement
les cris
des mouettes
avertissent
qu’il faut laisser
la proie
à d’autres
qui maintenant dans son cockpit
n´a pas de hublot
imagine pour soi
facilement
le bleu
du ciel

Traduction: André Ughetto et l´auteur

in: Phoenix N° 33, 2020

* * *

anmutig
die landschaft
für den besucher
schmiegen sich
hügel an ein ufer
bizarr die felsen
doch gefahrlos
auf abstand und
unendlich
groß das meer
geläufig in all
seiner bedeutung
die den mythos
von untiefe
nährt salz
streut auf wunden
sehnsucht erfüllt
menschen belebt
menschen ertränkt
anmutig
der anblick
je näher das auge
ans wasser kommt
desto weiter
entfernt sich
der horizont

paysage
charmant
pour le visiteur
collines se blotissant
sur un rivage
rochers bizarres
mais sans danger
à distance et
la mer grande
infiniment
accourue dans toute
son acception
qui nourrit
le mythe de l’abîme
verse du sel
sur les blessures
accomplit les désirs
anime les humains
noie les humains
charmante
la vue
plus l´oeil
s’approche de l´eau
d’autant plus recule
très loin
l´horizon

Traduction: André Ughetto et l´auteur

in: Phoenix N° 33, 2020

* * *

aber das licht
spricht dagegen
nur schwarz
zu sehen
aber das licht
spricht auch
von gefahr
sich blenden
zu lassen
statt alle
nuancen
wahrzunehmen

mais la lumière
contredit
qui ne voit
que du noir
et la lumière
parle aussi
du danger
de se rendre
aveugle
au lieu de
capter toutes
les nuances

Traduction: André Ughetto avec l´auteur

in: Phoenix N° 33, 2020

* * *

zweifel
an der eigenen
sprache haben
zwischen steinen
die zahllosen
körner sand
der sog von
wellen strand
gut und schaum
die gezeiten
kennen doch
jederzeit
überrascht
werden können

avoir
des doutes
sur sa propre langue
entre des calculs
les innombrables
grains de sable
l’aspiration des
vagues épaves
et mousses
connaître
les marées mais
à tout instant
pouvoir être
surpris

Traduction: André Ughetto et l´auteur

in: Phoenix N°33, 2020

* * *

woher plötzlich
ein solch leiser
ton im ohr
er trifft
das innere
stärker als
ein lärm
vielleicht
ist es die alte
melodie
von neuem
oder ein nie
vernommenes
rufen nahezu
still doch
eindringlich
eine stimme
von fern
die gehört
werden will

d´où vient soudain
un son si
léger à l´oreille
il atteint
l’âme
plus fortement
qu´un bruit
peut-être
est-il celui
à nouveau
de l’ancienne mélodie
ou jamais
entendu
un appel comme
silencieux mais
lointaine
une voix
insistant
pour être
écoutée

Traduction: André Ughetto et l´auteur

in: Phoenix N°33, 2020

* * *
als das kind
die augen aufschlug
in der nacht
wuchs sein
vertrauen
zur dunkelheit
doch es fürchtete
sich fortan
im hellen
das augenlicht
zu verlieren

chaque fois que l´enfant
ouvrait ses yeux
dans la nuit
sa confiance
allait croissant
dans l’obscurité
pourtant en clair
ol craignait
désormais
de perdre
la vue

Traduction: André Ughetto et l´auteur

in: Phoenix N°33, 2020

*

weil der blick
ungebrochen noch immer
das meer sucht
tauchen auch menschen
auf die erinnern an
sommerfrische fisch
fang und schifffahrt
meist aus vergnügen
doch auch aus verzweiflung
dem tod zu entfliehen
auf eine sichere seite
sofern es sie gibt

parce que le regard
invariablement
cherche la mer
ainsi aparaissent des personnes
qui rappellent
la fraîcheur estivale           
la pêche et la navigation
le plus souvent pour le plaisir
mais aussi par désespoir
fuyant la mort
vers quelque bord les protégeant
si jamais il existe

Traduction: André Ughetto et l´auteur

in: Phoienix N°33, 2020

* * *

weil die menschheit
wächst wächst
doch nicht die erde
wird nur immer schwerer
einen fuß vor den anderen
zu setzen und die
ellenbogen beiseite
zu schieben in der enge
zu atmen zu sehen
zu suchen ob es
ein oben ein unten
gibt

tandis que l´humanité
grossit la terre
cependant ne grossit pas
et il devient de plus en plus
difficile de mettre un pied devant
l‘autre de jouer
des coudes
dans un espace rétréci
de souffler de voir
de chercher s´il
y a un haut et un
bas

Traduction: André Ughetto et l´auteur

in: Phoenix N° 33, 2020

* * *

der mittag
trägt noch
die handschrift
der trägheit auch
wenn das essen
kalt wird die
türe klappert und
die augen weit
aufgerissen sind
als könnten sie
nicht fassen dass
es menschen gibt
die kommen um
ihnen das leben
zu rauben

midi
porte encore
l´écriture
de l’inaction
quand le repas aussi
refroidit que la
porte claque et
que les yeux sont
grand ouverts
comme s´ils ne pouvaient
croire que
des hommes
viennent
pour leur voler
leur vie

Traduction: André Ughetto et l´auteur

in : Phoenix N°33, 2020

Leseprobe RAL° 131 „FRONTIÈRES“

in einem fluss
wechselt die grenze
zwischen den ufern
von sprache
zu sprache
plätschert es
anders doch
unaufhaltsam

in: Revue Alsacienne de Littérature N° 131 «Frontières», (1) 2019

* * *

schwieriger
als stacheldraht
zu überwinden
ist das entfernen
unsichtbarer grenzen
zwischen den menschen
dicht beieinander
zugleich abgrundtief
getrennt

in: Revue Alsacienne de Littérature N° 131 «Frontières », (1) 2019

* * *

flüchtlinge
vor gewalt immer
wieder und wieder
gegen grenzen
prallend zurück
geworfen auf angst
und verlust unüberwindbar
die mauer missgunst
und hass dahinter
die menschen
auf der sicheren seite

in: Revue Alsacienne de Littérature N° 131 «Frontières», (1) 2019

* * *

begrenzt

ein halber
tag ein teil
vom weg ein
stück vom raum
ein fenster
spalt ein blick
der fehlt zum
ganzen text

in: Revue Alsacienne de Littérature N° 131 «Frontières », (1) 2019

* * *

abermals
tanzt
der raum
aus dem haus
klirrende
scheiben
lassen ihn
durch bestürzt
die bewohner
bleiben zurück

in: Revue Alsacienne de Littérature N° 131 «Frontières », (1) 2019

* * *

das wort horizont
wächst über sich hinaus
der meeresspiegel
schluckt einen himmel
wer eine grenze
sucht hat sie schon
übergangen und
die entfernung
aufgegeben sowie
den abstand zu
sich selbst

in: Revue Alsacienne de Littérature N° 131 «Frontières », (1) 2019

* * *
Andalusien

ein berg
hat sich gedreht
auf der töpferscheibe
klebt der fuß
den gipfel
modellieren
mit zerklüfteten augen

* * *

stumm beinahe
ein himmel
zu weit und
der farben
mächtig auf einmal
wenn blicke
die landschaft
verlassen und
das graue
gebirge streifen
hat der wind
einen felsen
gelöst den weg
abzuschneiden

in: Klaus Kühnel, Dem Garten Eden abgeschaut. Mensch und Landschaft, Trafo-Verlag, Berlin 2018

* * *

Lanzarote

zum inbegriff der landschaft
gehört schwarzer sand
vom wind verworfen
zwischen gestein
bricht erinnerung
hervor an die quelle
auf der suche nach einem
wünschelrutengänger

* * *

an die insel verlieren
den gleichgewichtssinn
im wind wach gerufen
und in der flaute
flach hingebettet
auf asche und schutt

* * *

in tiefem schwarz
erkaltet die lava
das innere der erde
nach außen gekehrt
glänzt in der sonne

in: Klaus Kühnel, Dem Garten Eden abgeschaut. Mensch und Landschaft, Trafo-Verlag, Berlin 2019

* * *

Arizona

im schatten des kaktus

bei greller sonne
scharf der umriss
des kaktus der
seinen schatten
wirft auf die spuren
der eroberer die
seinem saft kraft
entnahmen blut
zu saugen von
stamm zu stamm

- Death Valley,
  Phoenix, Arizona –

in: Klaus Kühnel, Dem Garten Eden abgeschaut. Mensch und Landschaft, Trafo-Verlag, Berlin 2018

* * *

immer wieder
die rede
vom horizont
aufschauend
zum himmel
gewohnt ihn
zu durchdringen
ohne den blick
hinab zu richten
um die untiefen
der erde zu
ergründen

encore et toujours
il est question
de l´horizon
en levant les yeux
vers le ciel
habitué à
le scruter
sans un regard
jeté vers le bas
pour sonder
les abîmes
de la terre

traduit avec Alain Fabre-Catalan

in: Revue Alsacienne de Littérature N° 129, « regards », (1) 2018

* * *

die enttäuschung
nimmt den augen
ihr blau sie
speit gelbe
worte und hört
nicht mehr auf
sich im kreis
zu drehen
alle farben
enden im grau

la déception
enlève aux yeux
leur bleu elle
vomit des mots
jaunes et
et ne s´arrête plus
de tourner
en rond
toutes les couleurs
finissent dans le gris

traduit avec Alain Fabre-Catalan

in: Revue Alsacienne de Littérature N° 129, « regards », (1) 2018

* * *

die hand vor augen
unsichtbar werdend
versteckt sich das kind
vor entblößendem
blick und verharrt
still bis einer laut
seinen namen ruft
und ihm den schutz
der geborgenheit
raubt

la main devant les yeux
devenant invisible
l´enfant se cache
des regards qui dénudent
et reste silencieux
jusqu´à ce que quelqu´un
appelle son nom à haute voix
et le prive
de la protection
de son abri

traduit avec Alain Fabre-Catalan

in: Revue Alsacienne de Littérature N° 129, « regards », (1) 2018

* * *

die sterne haben
den glanz eingebüßt
aufgrund all der blicke
abgestumpft schwarz
wächst vor augen
das loch der himmel

les étoiles ont
perdu leur éclat
à cause de tous les regards
ternis le noir
grandit devant les yeux
le trou le ciel

traduit avec Alain Fabre-Catalan

in: Revue Alsacienne de Littérature N° 129, « regards », (1) 2018

* * *

aus der gewohnheit
bricht nur einer aus
der verrückt sein muss
nach veränderung
und dem sprung
in die leere des raums
wo er weder aneckt
noch halt finden wird
doch allem was
unvorhersehbar ist
direkt ins auge
blicken kann

in: Revue Alsacienne de Littérature N° 128, «folies», (2) 2017

* * *

wenn einer
den eigenen besitz
verschenkt heißt es
er ist verrückt und
schon nimmt   sich
jeder so viel
er greifen kann

in: Revue Alsacienne de Littérature N° 128, «folies», (2) 2017

* * *

faire des folies
ja etwas verrücktes tun das
                                        wahnsinnig ginnisnhaw
spass macht und wenn auch nur
für einen einzigen augenblick
so ausgelassen sein dass alles
schwere der leichtigkeit weicht
kein boden mehr unter den füßen ist
um die rückkehr aufzufangen

in: Revue Alsacienne de Littérature N° 128, «folies», (2) 2017

* * *

crazy das wort
es spricht
dich an
tollt im kopf
herum wo
auch immer du bist
und spricht dir zu
sag was
du denkst
sonst wirst du
verrückt

in: Revue Alsacienne de Littérature N° 128, «folies», (2) 2017

* * *

L´invisible

wo die angst umgeht
in unsichtbarkeit
sucht der schatten
sein licht und
möchte sich einmal
in farbe bekennen
zu seiner herkunft

où erre l´angoisse
invisible
l´ombre cherche
sa lumière et
voudrait bien
revendiquer en couleur
son origine

- en gratitude à Albertine Benedetto pour la relecture de la traduction en francais -

in: i rouge , «invisible», N° 02/2017

* * *

zurück kehrt das blatt
an seinen zweig
um den versuch
der flucht zu
vertuschen tarnt
es sich färbend

in: poesiealbum neu "Steinbrech / Gedichte zu Pflanzen" N° 02/2017

* * *

mit der zeit

die sprache verlieren
mit der zeit
stumm kommunizieren
anstatt zu schweigen
wenn tag und nacht
zusammenfallen
die augen halb offen
halb geschlossen
anwesend und
zugleich abwesend
sein allein dem atem
das wort einräumen

in: Revue Alsacienne de Littérature N° 127, „le temps“, (1) 2017

* * *

ein halber
tag ein teil
vom weg ein
stück vom raum
ein fenster
spalt ein blick
der fehlt zum
ganzen text

in: Revue Alsacienne de Littérature N° 127, „le temps“, (1) 2017

* * *

da ist der strand
von heute nun
restlos menschen
leer vielleicht noch
ein paar spuren
die niemand lesen
wird allein das meer
versinkt im eigenen
wellengang

in: Revue Alsacienne de Littérature N° 127, „le temps“, (1) 2017

* * *

moment
aufnahme

als die möwe
das bild durchkreuzte
war das idyll
komplett eine post
karte könnte nicht
schöner sein sagtest du
und deine kamera
flog hinterher

in: Revue Alsacienne de Littérature N° 127, „le temps“, (1) 2017

* * *

früher das läuten
an der tür
ein brief trifft ein
nach langer reise
heute höchstens
der anklang
eines geräuschs
im gleichen
moment steht
die nachricht
vor augen
am bildschirm
bereit

in: Revue Alsacienne de Littérature N° 127, „le temps“, (1) 2017

* * *

top secret

die wand hat keine ohren
für verschwiegene
nachrichten genügt
der blick ins netz wo
sich jeder gedanke
verfängt noch bevor
er zu wort kommt

in: Levure Littéraire N° 13, juin 2017

* * *

eine doppelte tür
die hand hinterm
rücken ein geheimnis
wahren oder den verlust
wittern die stimme
senken spuren
verwischen anfangen
zu fragen

in: Levure Littéraire N° 13, juin 2017

* * *

die steine
abklopfen
an wänden
auf ein echo
hoffen von
händen die
sich zueinander
bewegen und
durch die mauer
hindurch
berührung
spüren

in: Levure Littéraire N° 13, juin 2017

* * *

wieder bahnt
sich das licht
eine schneise
ins wasser
und trifft
doch nicht
auf all die
vermissten
in den ozeanen
der welt

in: Levure Littéraire N° 13, juin 2017

* * *

etwas anderes schreiben als
du denkst etwas anderes
denken als du schreibst
um beides vielleicht
in einklang zu bringen
den stift beiseite die augen
heben versuchen die blicke
der menschen zu lesen

in: Levure Littéraire N° 13, juin 2017
* * *

und wieder
die brandung
verwischt
die spur
doch alles
gewesene
hat bestand
prägt jeden
der kommt
und sein
dasein
hinzufügt

in: orte N°190
S.79, 03/2017, Schweiz

* * *

ein ort hat
seine magie
verloren
an die stille
auf der andern
erdhälfte
stürzen die
bauten ein

in: orte N°190
S.79, 03/2017, Schweiz

* * *

im haus sind
die räume
ausgezogen
nur ein paar
glühbirnen
flackern umher
schatten und
licht nirgends
mehr wände
oder böden
aber gesichter
die keiner
erkennt

in: orte N°190
S.79, 03/2017, Schweiz

* * *

es gab einige
menschen die tranken
das meer leer
wieder andere
hungerten um
die wette niemand
kam um vor überfluss
oder aus mangel
alle sahen
einander immer
mehr gleich

in: orte N°190
S.79, 03/2017, Schweiz

* * *

als das herz
ein symbol geworden
war malte jeder
den mund an
leuchtend rot
und hörte auf
von liebe
zu sprechen

in: orte N°190
S.80, 03/2017, Schweiz

* * *

da spiegelt sich
das denken
auf einer fensterscheibe
beschlägt
der blick in grau
zu ahnen
ein paar linien
die mit dem glas
verschwimmen
ob daußen
oder drinnen
erahnt
vielleicht
ein wort
das danach
sucht gehör
zu finden

in: orte N°190
S.80, 03/2017, Schweiz

* * *

der blick hat die farbe
gewechselt nun
weiß niemand mehr          
ob hell und dunkel
beieinander liegen

der klang hat die sprache
gewechselt nun
versteht niemand mehr
ob ja und nein
zusammen gehören

in: Revue Alsacienne de Littérature N° 126 (2) 2016

* * *

und du gehst bis ans ufer
um die metapher einzulösen
das bild vom himmel
auf den kopf gestellt
vielleicht noch ein paar
schritte ohne grund
das alte wort vom weg
als ziel heißt es durchkreuzen

in: Revue Alsacienne de Littérature N° 126 (2) 2016

* * *

wieder
bahnt sich
das licht
eine schneise
ins wasser
und trifft
doch nicht
auf all die
vermissten
in den ozeanen
der welt

in: Revue Alsacienne de Littérature N° 126 (2) 2016

* * *

versuchen
die worte
von licht und
schatten in
ihr gegenteil
umzukehren
die finstere seite
der helligkeit
zeigen sowie
das dunkle
beleuchten

in: Revue Alsacienne de Littérature N° 126 (2) 2016

* * *

eine stimme
verliert sich
im raum
fortan erfüllt
vom klang
der fehlt

in: Revue Alsacienne de Littérature N° 126 (2) 2016

* * *

nichts ist utopisch
alles wird kommen
was jetzt schon
gedacht ist
sagen alle
die skeptisch
sind und doch
noch hoffen

in: Verschenk-Calender 2017
éditions trèves, Trier 2016

* * *

die zeit begann
ins haus zu
schneien und
türmte sich bis
hoch zum dach
suchte sie
raum und stille

in: Verschenk-Calender 2017
éditions trèves, Trier 2016

* * *

immer wenn einer
durchs fenster schaut
kommt gerade
ein boot in sicht
und nähert sich
seinem ufer
sobald er die
augen schließt
ist er an bord
statt der ferne
entgegen
zu sehen


toutes les fois que quelqu'un
regarde par la fenêtre
à l´instant un bateau
est en vue
et s´approche
du rivage
dès qu'il
ferme les yeux
il est à bord
au lieu de porter
son regard
au loin

Traduction en coopération avec Max Alhau
in: Poésie/première N° 63, 12/2015, S.26

* * *

da ist der strand
von früher
nun maßlos
überfüllt wer
etwas sonne sucht
der taucht am besten
ein ins bad der
bloßen körper
nicht ahnend
ob sie süchtig
sind nach nahtlos
brauner haut
oder leblos dort
liegen blieben wie
angeschwemmter müll


voilà la plage
du passé
maintenant sans mesure
surpeuplée celui qui
cherche du soleil
il plonge au mieux
dans le bain des
corps nus
ne réalisant pas
s´ils sont avides
de peau bronzée
sans couture
ou s'ils restent là
sans vie comme
des déchets rejetés

Traduction en coopération avec Max Alhau
in: Poésie/première N° 63, 12/2015, S.26

* * *

so viel wind
ungenutzt
die menschen
nicht fähig
zu fliegen
die häuser
verankert
niemals
zu versetzen
die energie
zu belastet
sich in luft
aufzulösen
doch die augen
ein leichtes
sie mitzureißen
wohin auch immer


tant de vent
négligé
les hommes
incapables
de voler
les maisons
ancrées
jamais
à déplacer
l´énergie
trop polluée
pour se dissoudre
dans l´air
mais les yeux
il est facile
de les entraîner
n´importe où

Traduction en coopération avec Max Alhau
in: Poésie/première N° 63, 12/2015, S.27

* * *

wenn einer am ton
den vogel erkennt
mag er so blind
sein dass niemand
ihn sieht unbeirrt
trägt ihn die stimme
davon und lichtet
ringsum das dickicht


si quelqu'un reconnaît l´oiseau
à travers le son
si aveugle qu'il soit
personne ne
le voit imperturbablement
la voix l´emporte
et dissout
les broussailles tout autour

Traduction en coopération avec Max Alhau
in: Poésie/première N° 63, 12/2015, S.27

* * *

wieviel blau
verträgt das auge
ohne zu ertrinken
oder sich aufzulösen
in luft


combien de bleu
supporte l´œil
sans se noyer
ou se disperser
dans l´air

Traduction en coopération avec Max Alhau
in: Poésie/première N° 63, 12/2015, S.27

* * *

den raum
kannst du verlassen
und trägst ihn
mit dir fort
für deine müdigkeit
die tür
lässt du
zurück für
alle die noch
kommen stehn
brot und salz
bereit
was vor dir
liegt wer weiß
vielleicht gehst
du im kreis


l´espace
tu peux le quitter
et tu l´emportes
avec toi
pour ta fatigue
la porte
tu la
laisses pour
tous ceux qui viennent
encore du pain
et du sel
sont prêts
ce qui se trouve
devant toi qui sait
peut-être vas-tu
dans le cercle

Traduction en coopération avec Max Alhau
in: Poésie/première N° 63, 12/2015, S.28

* * *

und du gehst bis ans ufer
um die metapher einzulösen
von meer und horizont
des menschen ist nun
nicht mehr die rede
ein bloßes sein die augen
und der mund das ohr
geöffnet allein
das bild vom himmel
auf den kopf gestellt
vielleicht noch ein paar
schritte ohne grund
das alte wort vom weg
als ziel heißt es durchkreuzen


et tu vas jusqu´à la rive
pour dégager la métaphore
de la mer et de l´horizon
de l´homme il n´en est
plus question
un pur être les yeux
et la bouche l´oreille
ouverts rien que
l´image du ciel
chamboulée
peut-être encore quelques
pas sans fond
le vieux mot de la voie
comme but il faut le contrer

Traduction en coopération avec Max Alhau
in: Poésie/première N° 63, 12/2015, S.28

* * *

noch etwas landschaft
bitteschön
sie vorzuführen
schmilzt das eis
und tüncht die segel
um zu erspüren wie
sommer aussieht
uferlos dem garten
eden abgeschaut
eine palette bunte
tuben als gingen
nie die farben aus


encore un peu de paysage
s´il vous-plaît
pour le présenter
la glace fond
et blanchit les voiles
afin d'imaginer quel air
a l´été
sans bornes copié
de l'Eden
une palette de tubes
bariolés comme si les
couleurs ne finissaient jamais

Traduction en coopération avec Max Alhau
in: Poésie/première N° 63, 12/2015, S.29

* * *

der abschnitt
zwischen land
und meer
ein niemandsland
für die gedanken
sie werden hin
und hergerissen
von fundament
und anker
kein fahrzeug
überbrückt
das stück
nicht mal ein flieger
könnte landen
allein das wort
vom anfang
es spielt sich
selbst das
ende zu


la partie
entre terre
et mer
une zone neutre
pour les pensées
partagées
entre
fondement
et ancre
aucun véhicule
ne franchit
la section
même un avion
ne pourrait atterrir
seulement le mot
du début
glisse
lui-même
vers la fin

Traduction en coopération avec Max Alhau
in: Poésie/première N° 63, 12/2015, S.29

* * *

mistral
du wirbelst
den sand
ins zimmer
auf wessen
spuren
gehe ich
hier
dessen
abdruck
am ufer
nun fehlt


mistral
tu souffles
le sable
dans la chambre
sur les traces
de qui
je marche
ici
dont
l'empreinte
manque dès lors
au rivage

Traduction en coopération avec Max Alhau
in: Poésie/première N° 63, 12/2015, S.30

* * *

der fremdenführer
geht von bord
versunkene geschichten
aufzulesen
holt sie an land
die menschen
wiederzubeleben


le guide
quitte le bateau
à force de recueillir des
histoires naufragées
il les rattrape sur la terre
pour raviver
les hommes

Traduction en coopération avec Max Alhau
in: Poésie/première N° 63, 12/2015, S.30

* * *


das kind hat zu laufen
gelernt mehr langsam
als schnell geht es
seiner wege bleibt
auch noch im blick
nach der biegung
ein schatten
zusehends
schmaler
steht
fortan
für fort
bewegung

in: poesiealbum neu / Alles fließt – Gedichte zur Bewegung 02/2015, S.23

* * *

I

am anfang
war das lied
in der dunkelheit
wortlos
die angst
zu übertönen
erhob sich
hell die stimme
des kindes


au commencement
était le chant
dans l´obscurité
sans mot
la peur
à dominer
s´est levée
si claire la voix
de l´enfant

Traduction: Alain Fabre-Catalan et l´auteure
in: Revue Alsacienne de Littérature N° 124 (2) 2015, S.62

* * *

II

kopfhörer
kopfhörer auf
tritt und schritt
der rhythmus bewegt
sich durch alle straßen
klammert den lärm
einer großstadt
aus hämmert die
instrumente ins ohr
das trommelfell
bebt in der menschen
enge wo niemand
ein wort mit
dem anderen spricht


casques d´écoute
casques d´écoute
pas après pas
le rythme s´ébranle
à travers toutes les rues
mis entre paranthèses le bruit
d´une grande cité
martèle
les instruments dans l´oreille
le tympan
tremble dans le retrait
des hommes où personne
ne dit mot
avec l´autre

Traduction: Alain Fabre-Catalan et l´auteure
in: Revue Alsacienne de Littérature N° 124 (2) 2015, S.62

* * *

III

als der komponist
die vögel ins spiel
brachte flogen
all seine
noten davon


alors que le compositeur
mettait en jeu
les oiseaux
s´evolaient toutes
ses notes


Traduction: Alain Fabre-Catalan et l´auteure
in: Revue Alsacienne de Littérature N° 124 (2) 2015, S.63

* * *

IV

am ende den text
eines lieds nicht mehr
kennen die melodie
für immer im ohr


à la fin les paroles
d´un chant ne plus
les connaître la mélodie
à jamais dans l´oreille

Traduction: Alain Fabre-Catalan et l´auteure
in: Revue Alsacienne de Littérature N° 124 (2) 2015, S.63

* * *

wo von landschaft
die rede ist
erstreckt sich
erinnerung dem himmel
gleich der ein loch
in die wolken
bohrt zum heiteren
blau doch es steckt
keine absicht dahinter
wenn gewässer zu
blinden spiegeln werden
da wechseln sich
schon die häuser mit
den hütten ab da
wird aus dem ufer
die befestigung
gerissen und kopf
über hinein
« heureux qui comme Ulysse »
an land gespült wo
oder wann wann und für wie lange

°Chanson von George Brassens
  („glücklich wie Odysseus“ )


in: Levure Littéraire/Musique N° 11, septembre 2015

* * *

Istanbul

hunde dort
aber kaum so viele wie hier
es fehlt nicht nur
nahrung für tiere
auf simsen nisten
die vögel bereits überall
hält die luft den atem
zurück eine wolke
löst sich vom wasser
aus offenen fenstern
schmeichelt musik
so schwermütig
schritte kein tanz
ein tänzeln mit schmerzen
ist die stimmung
geknickt doch keineswegs
verzweifelt es geht
hinab wenn nicht wieder hinauf
die stufen sind tiefer
getreten und die gestalten
sinken zusammen am ufer
verschwimmen mensch und meer

in: Levure Littéraire/Musique N° 11, septembre 2015

* * *

wo mozart unterwegs war
gab es keine musik
außer in seinem ohr
so kam es dass er nie
einen vogel hören konnte
geschweige denn den schrei
des kindes das er einmal
selbst gewesen war
und ihm flossen die
melodien wie tränen
aus der kehle freude
und leid trugen ihn
durch ein stilles land

in: Levure Littéraire/Musique N° 11, septembre 2015

* * *

bevor es zu artikulieren begann
intonierte das kind
satz um satz melodien
hob und senkte
die stimme ein klang
aus frage und antwort
wunsch oder enttäuschung
begrüßung wie abschied
wortlos das gutenachtlied
während es einschlief
sang der raum

- für Silke -

in: Levure Littéraire/Musique N° 11, septembre 2015

* * *

an den anderen

wenn ich an dich
denke schlägt die welle
ins boot doch du
bist am ufer und
schreibst in den sand
deine augen die
bunten hast du
gesenkt ich sehe
nur salz wie
es
glänzt auf den
wangen sehe
den mund und
spreche dir zu
kein wort geht
verloren hörst du
ebbe und flut
lesen alles
auf


à l´autre

quand à toi
je pense la vague tombe
dans le bateau mais toi
te trouves au rivage et
écris dans le sable
tes yeux, les
bigarrés, as
baissés je vois
seulement du sel comme
il
brille sur tes
joues je vois
ta bouche et
je dis à toi
aucun mot ne va
se perdre écoute, toi,
marées basse et haute
recueillent
tout

Traduction en coopération avec Jacques Estager

in: Cordes sensibles| l´Autre, N°1, août 2015

* * *

fortan

den einen zieht es
aus den schuhen
den anderen treibt
die lust zu tanzen
und beide wünschen
sich zu fliegen so leicht
als müssten sie nicht
landen ihr blick
trifft in der luft
zusammen sie
stürzen fortan
ein gedanke


désormais

l´un s'est retiré
de ses chaussures
l´autre animé
de l´envie de danser
et les deux se souhaitent
de voler si légèrement
comme s´ils ne devaient pas
atterrir, leur regard
se rencontre dans l'air
eux ensemble
tombent désormais
même pensée

Traduction en coopération avec Jacques Estager

in: Cordes sensibles| l´Autre, N°1, août 2015

* * *

forderung

während ich schreibe
fällt mir der andere ins wort
meine gedanken
in frage zu stellen
seine forderung
wirft mich zurück
auf das kreuz
des analphabeten
und ich sehe ihn an
um lesen zu lernen


exigence

pendant que j´ecris
l´autre coupe ma parole
mes pensées
les mettre en question
son exigence
me rejette
sur la croix
de l´analphabète
et je le regarde
pour apprendre à lire

Traduction en coopération avec Jacques Estager

in: Cordes sensibles| l´Autre, N°1, août 2015

* * *

Choix de poèmes pour «LA REVUE DES ARCHERS»

erste zeit

nun tragen blätter licht
ans fenster klopft wärme ihre
erste zeit vor augen scheint
ein langer tag
den menschen in den räumen
wachsen die schatten
aus dem kurzen haar


premier instant

maintenant les feuilles retiennent la lumière
la chaleur toque à la fenêtre son
premier instant sous les regards ressemble
à un long jour
aux hommes qui sont dans les chambres
croissent les ombres
de cheveux courts

in: LA REVUE DES ARCHERS N° 26, Juin 2015
aus: INS LEBEN DER RÄUME, 2006, S.43

Traduction en coopération avec Brigitte Gyr

* * *

wer sagt dass ein wort
aus mauern und dach besteht
lebt mit dem ohr
an der wand
und hört sich selbst
auf ein echo
warten


qui dit qu’un mot
est fait de murs et d’un toit
vit l’oreille collée
à la paroi
et s’entend
guetter la venue
d’un écho

in: LA REVUE DES ARCHERS N° 26, Juin 2015
aus: INS LEBEN DER RÄUME, 2006, S.46

Traduction en coopération avec Brigitte Gyr

* * *

vermehrter verlust

das zimmer
gleicht gedächntnis
schwund durch
überfülltsein
aus
an wänden
stellt die bilderflut
erinnerungen
ein


perte accrue

la chambre
compense
la perte
de mémoire
par un trop-plein
sur les parois
le flot d’images
interrompt
les souvenirs

in: LA REVUE DES ARCHERS N° 26, Juin 2015
aus: INS LEBEN DER RÄUME, 2006, S.50

Traduction en coopération avec Brigitte Gyr

* * *

kopfjäger

objektiv
im anschlag
die räuber
der ungezählten
gesichter schiessen
aus der hüfte
mit blitz und tele
wen immer sie treffen
lochen sie ein


chasseurs de têtes

l’objectif
à l’attaque
les voleurs
de ces visages
non comptabilisés tirent
à partir de la ceinture
vitesse de l’éclair et téléobjectif 
celui qu’ils touchent
ils le mettent au trou

in: LA REVUE DES ARCHERS N° 26, Juin 2015
aus: INS LEBEN DER RÄUME, 2006, S.10

Traduction en coopération avec Brigitte Gyr

* * *

auf zuschauer

der bildschirm steht
laufend in flammen
die katastrophe wieder
holt sich um einschaltsquoten
zu vermehren ist
kaum ein feuer
gross genug noch
reicht ein brand
für jeden sender
damit der funken
überspringt


aux téléspectateurs

l’écran est
régulièrement en flammes
la catastrophe  sans cesse
reproduite pour accroître
les parts d’audience
il n’est pas de feu  assez important
pas d’incendie suffisant
à alimenter
l’ensemble des chaînes
pour que crépite
l’étincelle

in: LA REVUE DES ARCHERS N° 26, Juin 2015
aus: INS LEBEN DER RÄUME, 2006, S.11

Traduction en coopération avec Brigitte Gyr

* * *

in Sanary-sur-Mer° 3

nachträglich

auf spuren jener
zu gehen die
ausgelöscht sind
lässt die füße
brennen und
die augen
verschwimmen
beim anblick
des immer gleichen
himmels der
sein azur
ins wasser wirft
um auch noch nachträglich
die hoffnung
zu ertränken

°Exil deutschsprachiger Schriftsteller während der Nazi-Diktatur


à Sanary-sur-Mer° 3

après coup

aller
sur les traces
de ceux qui
se sont éteints
brûle les pieds
et voile
les yeux
face à
ce ciel
toujours égal
qui lance dans l’eau
son azur
pour noyer
fût-ce après coup
l’espoir

°lieu d’exil d’écrivains de langue allemande pendant la dictature nazie

in: LA REVUE DES ARCHERS N° 26, Juin 2015
aus: INS LEBEN DER RÄUME, 2006, S.28

Traduction en coopération avec Brigitte Gyr

* * *

in der spiegelung
trägt das wasser
jeden
körper und
seine bewegung
ohne auseinander
zu laufen und
die vorstellung
von tiefe
an die oberfläche
zu holen


dans le reflet
l’eau porte
tout
corps et
son mouvement
sans  qu’ils
se dispersent ou
cherchent
à présenter
le  fond
à la surface

in: LA REVUE DES ARCHERS N° 26, Juin 2015
aus: INS LEBEN DER RÄUME, 2006, S.12

Traduction en coopération avec Brigitte Gyr

* * *

in der wüste

hast du die pyramide
gesehen nirgendwo
anders als auf deinem
weg ruht
eine sphinx in
gräber
nähe raubt
dir das herz den atem
die zeit beim anblick
von sand zerrinnt
jede eile


dans le désert

as-tu vu
la pyramide en nul
lieu autre que sur ton
chemin un sphinx
repose
à proximité
des tombes    te vole
ton cœur ton souffle
le  temps    à la vue
du sable toute hâte
s’écoule

in: LA REVUE DES ARCHERS N° 26, Juin 2015
aus: INS LEBEN DER RÄUME, 2006, S.38

Traduction en coopération avec Brigitte Gyr

* * *

früher ließen die boten
des unglücks ihr leben
heute sterben sie noch
bevor etwas geschieht


auparavant les messagers
du malheur perdaient la vie
aujourd’hui ils meurent avant même
que quelque chose advienne

in: LA REVUE DES ARCHERS N° 26, Juin 2015
aus: INS LEBEN DER RÄUME, 2006, S.39

Traduction en coopération avec Brigitte Gyr

* * *

eine frage des spiels

ist es ein spiel
wenn das kind
groß genug
den regeln
zu folgen im
uhrzeigersinn
an die reihe kommt
die figur vorwärts
rückt eine andre
rauschmeißt oder
aussetzen muss

ist es ein spiel
als erster
im ziel vor all
den verlierern
hurra zu schrein
ein richtiger sieger
oder geschlagen
zu werden so
klein gemacht
dass es keiner
mehr sieht

in: Revue Alsacienne de Littérature N°123 (1) 2015, S.52

* * *

das alte spiel

um die wette
das alte spiel
mit blassen lippen
versteinert der schrei
zum jubel im ziel
der sieger allein

in: Revue Alsacienne de Littérature N°123 (1) 2015, S.52

* * *

rollenspiel

da mag erinnerung
eine rolle spielen
theaterprobe bühne
ovationen und
buhrufe ein publikum
aus samt und seide

da mag erinnerung
eine rolle spielen
das stück umschreiben
und es neu besetzen
die loge für den
ehrengast freihalten

da mag erinnerung
eine rolle spielen
das licht geht aus
wer will bezweifeln
wenn alle hinsehn fängt
die illusion schon an

in: Revue Alsacienne de Littérature N°123 (1) 2015, S.52

* * *

ein kinderspiel

anhalten
den atem
ein kinderspiel
früh übt sich
der abschied

luft aus den reserven
tonnenschwer
die lunge
hat wasser
getrunken

umschalten
noch einmal
die kiemen
erinnern
untiefen
auf immer

in: Revue Alsacienne de Littérature N°123 (1) 2015

* * *

spielerisch

wenn es
an sprache
mangelt

fingerfarben

wie damals das kind
den tisch und
sich selbst
anmalte

irgendwann
ein wort
das erste
in spiegelschrift

- für Andreas -

in: Revue Alsacienne de Littérature N°123 (1) 2015

* * *

IN GEDENKEN AN VIRGILIO

papier papier
ein kranich
faltet seine flügel
als könne er
nicht fliegen
doch singen
ja von einem
baum der
keine
wurzeln hat

für Virgilio

13. Mai 2014
- Villa Tamaris, La Seyne-sur-Mer -

* * *

hellwach die augen sehen / genau hin das klare gesicht / eines zuhörers der anteil / nimmt und der erkennt / seine stimme hat so viel / wärme zu geben und ist / doch bestimmt von der / unbedingheit des poeten / die weit geöffneten augen / als träumten sie / sprechend zugleich von / hiersein wie fortsein / doch niemals im nirgendwo / verbleibend ihr blick / jedem der / seine vision bewahrt

mit meinem herzlichen Dank an Virgilio
- Waldkirch, 4. Dezember 2014 –

in: Virgilio Masciardi 1963-2014, orte N°181
S.68-69, 05/2015, Schweiz

* * *

haben den traum
aus dem fenster
geschmissen ohne
zu wissen ob
er auch fliegt

haben den traum
im raum gelassen
um nicht zu erwachen
anderswo

haben den traum
immer wieder
vergessen beim
wachwerden sehen
wir dass er fehlt

haben den traum
selbst zu ende gedacht
warten noch immer
auf einen neuen



avons jeté le rêve
par la fenêtre
sans savoir
s´il est capable
de voler

avons laissé le rêve
dans l´espace
afin de ne pas nous
réveiller autre part

avons toujours et encore
oublié le rêve et quand
sortons du sommeil
nous réalisons
qu´il nous manque

avons le rêve même
envisagé en fin
toujours dans l´attente
d´un nouveau


Traduction: Jean-Marc Couvé
in: MICROBE, N° 88, 03-04, Belgien 2015

* * *

wenn einer die tonlage
wechselt kokett
ist er ein sänger
auf erbärmlichen
straßen entrollt
sich der rote teppich
jeden tag neu
zu seinen füßen
sobald die menschen
rings um ihn
stehen bleiben
ohne etwas
in seinen hut
zu werfen



si quelqu´un change la tonalité
non sans coquetterie
c´est un chanteur
sur une misérable
route s´enroule
le tapis rouge
chaque jour à nouveau
à ses pieds
tandis que les auditeurs
l´entourent
sans bouger
nie rien
glisser dans
son chapeau


Traduction: Jean-Marc Couvé
in: MICROBE, N° 88, 03-04, Belgien 2015

* * *

in aller eile

oft zu hören von früher
in den höchsten tönen
nach dem mahl der mokka
und alle hatten mehr zeit
mittlerweile ist heute
die deinige eilt
wirf die münze
in den kasten
wie es sprudelt
bereits das lösliche
pulver im einmalbecher



à toute vitesse

souvent entendre parler
du temps jadis d´un ton pointu
le café qui suivait le repas
et tous disposaient de plus de temps
entre temps d´est maintenant
et tu te précipites
lance une pièce
dans la machine
afin que gicle
la poudre soluble
dans le gobelet

Traduction: Jean-Marc Couvé
in: MICROBE, N° 88, 03-04, Belgien 2015

* * *

 
  gäbe es den lärm
nicht höllenlärm
lebten wir dann
im paradies während
die bäume in den
himmel wachsen
unsere augen sich
an dunkelheit
gewöhnen
weder sonne noch
regen ausgeliefert
alle die gleiche
sprache zufrieden
untätig zu sein
einer wie der andere
nicht voneinander
zu unterscheiden

in: Revue Alsacienne de Littérature N°122 (2) 2014

* * *

nichts ist utopisch
alles wird kommen
was jetzt schon
gedacht ist
sagen alle 
die skeptisch
sind und doch
noch hoffen

in: Revue Alsacienne de Littérature N°122 (2) 2014

* * *

so fern so nah

von inseln haben wir gehört
sie schwimmen einfach fort
von den oasen wissen wir
sie suchen nach den letzten
wüsten um sich im sand
fest zu verankern nur
paradiese zu veraltet um
neuen normen nachzukommen
hingegen gelten schrebergärten
nicht nur für kleine leute
gesunder als ein supermarkt
erst recht das biotop es wächst
sobald wir unsere augen
schließen sprießen aufs neue
landschaften wo ausgestorbene
tiere sich wieder blicken
lassen uns zu beäugen
sterbenshungrig ganz wie wir
sie vernichtet haben einst
einwohner desselben sterns
den wir unsere erde nannten

in: Revue Alsacienne de Littérature N°122 (2) 2014

* * *

ist es utopisch
zu träumen statt
wach zu bleiben
unaufhaltsam alles
sichtbare im auge
ist es utopisch
sich vorzustellen
es gebe mehr
und womöglich
auf dauer

in: Revue Alsacienne de Littérature N°122 (2) 2014

* * *

ich weiß
die erde bebt
nicht hier

kein mensch
ist nebenan
verschüttet

klopfzeichen
bilde ich
mir ein

in: klopfzeichen bilde ich mir ein, S.87
     Waldkircher Verlag, Waldkirch 1993


je sais
la terre tremble
pas ici

personne
aux alentours
n´a été enseveli

juste
un signal
j´imagine

Traduction: Brigitte Gyr
in: Levure Littéraire, Numéro 10, 11/2014

* * *

die geschichte im zimmer

auf dem pult gab es
die ordnung im papier
stand blau die schrift
mit dem namen durchgestrichen
zwischen aktendeckeln
schloss sich die geschichte
in ein zimmer

in: im netz mit den anderen
Trescher Verlag, Edition Fürsatz, Berlin 1998


l´histoire en chambre

sur le bureau l´ordre
régnait sur le papier
l´écriture était bleue
avec le nom rayé
des dossiers
l´histoire se claquemurait
dans une chambre

Traduction : Brigitte Gyr

in: Levure Littéraire, Numéro 10, 11/2014

* * *

hingabe

obgleich sie wissen
die stunde hat
höchstens sechzig
minuten überschlagen
sie sich die zeit
zu verlängern rasen
schlingen verschlucken
die silben schneiden
die kurven springen
stockwerke tief kürzen
den text löschen
nie die programme bleiben
im mantel lieben
sich auf dem gang

in: aus dem rahmen fällt die uhr, S.19
     orte-Verlag, Zelg CH, 2001


dévouement

bien qu´ils sachent que
l´heure a au plus
soixante minutes ils se précipitent
pour rallonger le temps accélèrent
avalent engloutissent
les syllabes coupent
les virages sautent
les étages taillent
dans le texte n´effacent
jamais les programmes restent
en manteau s´aiment
entre deux portes

Traduction : Brigitte Gyr

in: Levure Littéraire, Numéro 10, 11/2014

* * *
maßarbeit
 
ikarus weicht keinen millimeter
von seinem mythos ab
und trifft immer wieder
dieselbe absturzstelle
mittlerweile sind auch
die zuschauer geübt
und kommen erst
im letzten augenblick
um dabeizusein wenn
die flügel sich lösen und
körperlos noch etwas
fliegen dem rumpfe
langsam hinterher

in: menschen enge, S.56
     drey-Verlag, Gutach 2009


une oeuvre sur mesure

icare ne s´écarte pas d´un millimètre
de son mythe
aboutit encore et toujours
au même lieu de chûte
entre temps les spectateurs se sont
habitués aux aussi
ils n´arrivent qu´au
dernier moment
pour être là lorsque
les ailes se détachent
et privées de corps
continuent lentement à voler

Traduction : Brigitte Gyr

in: Levure Littéraire, Numéro 10, 11/2014

* * *

wachsein
 
am traum
vorbei siehst du
das wachsein
schwarz weiß
der himmel und
die erde in
deinen augen
dennoch bunt
die spur der
liebe eingraviert
die spur der
liebe ausgemerzt
ein meisterwerk
abstrakter
kunst


état de veille

au côté
du rêve tu vois
l´état de veille
noir blanc
le ciel et
la terre dans
tes yeux
mais colorée
la trace de
l´amour gravée
la trace de
l´amour éradiquée
un chef d´œuvre
d´art
abstrait

Traduction : Brigitte Gyr

in: Levure Littéraire, Numéro 10, 11/2014

* * *

auf einmal begann
auch das ende
zu zählen
rückwärts zunächst
ein count-down
altbekannt
und wie erwartet
schließlich
bei null
nichts mehr
zu hören

in: Revue Alsacienne de Littérature N°121 (1) 2014,
S.52

* * *

abermals
altmodisch
der mensch
und das wort
am anfang
immer
der wunsch
nach kontakt
koste es auch
ein paradies
zu verlassen
zerfall in
zahllose
sprachen

in: Revue Alsacienne de Littérature N°121 (1) 2014,
S.52

* * *

die zeit begann
ins haus zu
schneien und
türmte sich bis
hoch zum dach
suchte sie
raum und stille

in: Revue Alsacienne de Littérature N°121 (1) 2014,
S.53

* * *

wenn nichts mehr
gelingt beginnt
auch das ende
der vorstellung
vielleicht leert
sich der blick
noch vor dem
verstummen
hat das licht
bereits seinen
namen gelöscht
das wort ohne
anfang hört auf
umherzuirren

in: Revue Alsacienne de Littérature N°121 (1) 2014,
S.53

* * *

Je suis né
dans un pays de neiges
et de cendres

Pays où l´on arrive
Jamais.
Et que jamais,
on ne quitte ni ne connaît
Pays d´où personne ne vient,

le soleil croît
en larmes de cendres,
débris de neiges noircies
et d´âme engloutie
dans l´étincelle
des silences enfuis

Je suis né – ici,
ainsi que naît la peur.

en hommage à Rose Ausländer
Matthieu Baumier


Ich bin geboren
in einem Land aus Schnee
und Asche

Land in dem man Niemals
eintrifft.
Und das man niemals
verlässt noch je kennt
Land dem niemand entstammt,
wo
die Sonne zunimmt
an Tränen aus Asche,
Abfall geschwärzten Schnees
und zugrunde gegangener Seele
im Funken
enflohener Stille

Ich bin geboren – hier,
so wie die Angst geboren wird.

im Gedenken an Rose Ausländer
Übersetzung: Eva-Maria Berg


in: Revue Alsacienne de Littérature N°121 (1) 2014, S.93

* * *

was bildest du dir ein
beim schreiben
schaust du tatsächlich
von dir weg siehst
die gesichter näher
kommen mit jedem wort
gibst du versprechen
sie festzuhalten sie
zu retten was bildest du
dir ein beim schreiben
hast du die augen offen
für all die angst und
hoffnung auf eine bleibe
wenigstens im text
ein dach über dem kopf
bevor der stift abstumpft


qu’est-ce que tu imagines
en écrivant
regardes-tu vraiment
au plus loin de toi vois-tu
les visages s ́approcher
avec chaque mot
te promets-tu
de les retenir de les
sauver qu ́est-ce que tu
imagines en écrivant
as-tu les yeux ouverts
face à toute angoisse et
tout espoir d ́une demeure
au moins dans le texte
un toit au-dessus de la tête
avant que le crayon ne s’émousse

traduit avec Max Alhau


what do you imagine
while you write
do you really look
away from yourself do you see
the faces as they
approach with every word
do you promise
to hold them to
save them what do you
imagine while you write
do your eyes stay open
to all the fear and
to the hope of a sanctuary
at least in the text
a roof over one’s head
before the pencil dulls

translated by: Yehuda Hyman

in: La Traductière N° 32, 2014, S.18

* * *

aus dem augenblick
ist betrachtung
geworden kein ufer
entfernter als die andere
seite wenn der hund
nicht wagt hinüber
zu schwimmen und
das boot kieloben
den fischfang
aufgibt segeln
vielleicht ein paar
flügel am himmel
den blühenden
hafen erinnernd


l´instant
est devenu
contemplation aucune rive
éloignée l´une plus que
l´autre à l´heure où le chien
ne se risque pas à gagner
l´autre côté à la nage et
le bateau quille en l´air
abandonne
la pêche alors
peut-être quelques ailes
voguent dans le ciel
qui rappellent
le port fleuri

traduit avec Patricia Fiebig

in: Les Carnets d´Eucharis n°42, été 2014

* * *

alarm
kann alles
sein die pause
im gespräch
das lachen
vor der tür
die farbe
einer schrift
sternzeichen
ohne anleitung


alarme
peut être
tout la pause
dans l´entretien
le rire
devant la porte
la couleur
d´une écriture
signe astrologique
sans instruction

traduit avec Patricia Fiebig

in: Les Carnets d´Eucharis n°42, été 2014

* * *
der wind am meer
ist frisch und
würde dir gefallen
wie jede wiederholung
die noch einmal
von vorn beginnt
der sommer
aber gleicht
dem bilderbuch
in weiß das nur
von stille spricht
und alle seiten
überspringt

le vent au bord de la mer
est frais et
te plairait
comme chaque répétition    
qui encore une fois
du début recommence
l´été
pourtant ressemble
au livre d´images
blanches qui raconte
seulement le silence
et saute
toutes les pages

traduit avec Patricia Fiebig

in: Les Carnets d´Eucharis n°42, été 2014

* * *
außer gefahr

überall das gleiche elend
die boote kurz vor dem versinken
wirken auf bildern pittoresk
doch gerettet der photograph
der von seenot lebt


hors danger

partout la même misère
les bateaux avant de sombrer ont
l´air pittoresque sur les clichés
pourtant le photographe est sauvé
il vit de naufrage

traduit avec Patricia Fiebig

in: Les Carnets d´Eucharis n°42, été 2014

* * *

irgendwo auf see
die menschen
leere erinnerung
an ufer die flucht
versuche fort
aus der enge
ein horizont
makellos
sein klischee
gibt die linie
vor sie überschreiten
zu können stürzen
die augen
dem körper davon


quelque part en mer
le souvenir
désert du rivage
les tentatives
de fuite quitter
le confinement
vers un horizon
impeccable
son cliché
trace la ligne
pour pouvoir la
franchir les yeux
se détachent
du corps

traduit avec Patricia Fiebig

in: Les Carnets d´Eucharis n°42, été 2014

* * *

keine geschichte
erzählen im
zeitraffer spricht
der stift von
der unmöglichkeit
anfang und ende
auseinanderzuhalten


ne pas raconter
une histoire en
accéléré le crayon
parle de
l´impossibilité
de distinguer
le début de la fin

traduit avec Patricia Fiebig

in: Les Carnets d´Eucharis n°42, été 2014

* * *

sprachen vermischen
sich im ohr im mund
werden sie sortiert
die eine and another et cetera
ein raum voll mit
vielerlei stimmen ein raum
der in laute zu zerfallen droht


languages intermixing
in the ear in the mouth
they will be sorted
die eine et l´autre and so on
a space full of
an assortment of voices a space
being at risk to collapse in sounds

translated by: Yehuda Hyman

In: Babel, Sarah Lawrence Journal of Translation, 2013-2014, S.41

* * *

fünf mäntel der einen stadt

unter der meistfotografierten
brücke kann niemand
ohne obdach sein
nur täuschungen der sinne
haben platz
auf der bank
aus altem stein
rascheln die zeitungen
in den tüten
halten sich die brote
aus plastik länger
als die vorstellung
eines mahles
an der tafel des
fürsten fehlen
weder butter noch wein
wer fünf mantel
aus dem mull
geangelt hat trägt sie
immer übereinander
unter der krempe
eines hutes wächst
sogar der bart
im schatten auch wenn
die blitzlichter
bei verhangenem
tageslicht ein viereck
schlagen bis zum fuß
wagen sich die plumpen
tauben statt die hand
zu umkreisen
die auch den flaschenhals
zum munde führt
mit keinem laut
wird er versinken
zwischen aber und aber
hundert überschwemmungen
aus allen kontinenten
fließend zu exkrementen
der einen stadt

Venedig 1997

aus: IM NETZ MIT DEN ANDEREN, 1998


five overcoats of the one city

under the most photographed
bridge nobody can
be without shelter
only mental delusions
have room
on the bench
of old stone
the newspapers crinkle
in the bags
the breads in plastic
are keeping longer
than the imagination
of a meal
on the table of the
royalty are missing
neither butter nor wine
one who has fished
five overcoats
out of the trash is wearing
them always one over the other
under the brim
of a hat is growing
actually the beard
in the shadow even if
the flash photos
during the dull
daylight illuminate
a square down to the foot
where the clumsy doves
venture instead of orbiting
the hand
which is putting the bottle's lip
to the mouth
without a sound
it will sink
between hundreds upon
hundreds of inundations
from all continents
floating towards the excrement
of the one city

translated by: Yehuda Hyman

In: Babel, Sarah Lawrence Journal of Translation, 2013-2014, S.41-42

* * *

hunde schlagen schon an
wenn etwas wind aufkommt
kehrt der segler um im traum
schreckt die stimme hoch
so verlassen ist der himmel
von allen guten geistern
bleibt vielleicht
eine ahnung zurück


des chiens aboyent déjà
si quelque vent se lève
le voilier retrourne dans le rêve
la voix réveille en sursaut
le ciel tant abandonné
de tous les bons esprits
il en reste peut-être
une vague idée

traduit avec l´aide de Patricia Fiebig

In: Recours au Poème, Sommaire 99, 05/2014

* * *

den hügel vor augen
die häuser sehen
zum offenen meer
sich zurückversetzen
in die angst der ahnen
das andere ufer
nie zu erreichen
noch bleiben
zu dürfen am
ort des exils
dem kleinen hafen
mit fischern händlern
rathaus und cafés
den stationen
des kreuzwegs
den oft einheimische
gingen hinauf
zur kapelle
vorbei
an ihrer tür

Sanary-sur-Mer

Exil deutschsprachiger Schriftsteller
während der Nazi-Diktatur


contemplant la colline
les maisons donnent
sur le large
se replonger dans
la peur des ancêtres
ne jamais atteindre
l´autre rive
ne pas pouvoir
rester sur
le lieu de l´exil
le petit port
les pêcheurs les marchands
la mairie et les cafés
les stations
du chemin de croix
souvent emprunté par les gens
du pays pour aller en haut
à la chapelle
en passant
devant leur porte

Sanary-sur-Mer
lieu d´exil d´écrivains de langue allemande
pendant la dictature nazie

traduit avec l´aide de Patricia Fiebg

In: Recours au Poème, Sommaire 99, 05/2014

* * *

in den gesichtern
blasse spuren
der anflug eines lächelns
fehlt wer müde
aussieht hat vielleicht
geschlafen und sucht
nach einem traum
den es nicht gab wer
ruhen sollte widersteht
und klammert sich
bei tag und nacht
an jedes mittel das ihn
wachhält statt einer spanne
zeit um zu entspannen
wiegt endlichkeit
mehr als der augenblick

dans les visages
des traces pâles
même pas l´esquisse
d´un sourire celui qui a l´air
fatigué peut-être a
dormi et cherche
un rêve
qui n´existait pas celui qui
devrait se reposer résiste
et se cramponne
jour et nuit
par tous les moyens à ce qui le
tient éveillé à la place d´un intervalle
de temps de détente
le temporel pèse
plus que l´instant

traduit avec l´aide de Patricia Fiebig

In: Recours au Poème, Sommaire 99, 05/2014

* * *

erwartung

der name fliegt längst
alle rufen ikarus
halt was du versprichst


attente

der name fliegt längst
alle rufen ikarus
halt was du versprichst

traduit avec l´aide de Patricia Fiebig

In: Recours au Poème, Sommaire 99, 05/2014

* * *

wie jung das meer
aussieht am morgen
aus dem augenwinkel
ist es gerade erst
entstanden ein bild
in dem es sich weich
läuft auf sand
der tag ist schon
beflügelt selbst ohne
möwe schreit es
sich nur umso lauter
ein fisch frisst
dem schwimmer
aus der hand
als sei sie zeitlos
taucht eine linie
den horizont glatt
unter wasser oder
womöglich in den himmel


comme la mer a
l´air jeune le matin
du coin de l´oeil
elle a juste pris
naissance une image
où l´on court légèrement
sur le sable doux
le jour prend déjà son
envol même sans
mouette d´évidence il crie
encore plus fort
un poisson vient manger
dans la main
du nageur
comme si elle était intemporelle
une ligne immerge
elle lisse l´horizon
dans l´eau ou
peut-être dans le ciel

traduit avec l´aide de Patricia Fiebig

In: Recours au Poème, Sommaire 99, 05/2014

* * *

oase gesucht

die augen
sehen sich
wund am grün
es wuchert
statt zu wachsen
die augen
sehnen sich
nach weiß
das alle
farben
in sich trägt
während doch
keine über
wiegt  
und blicke
immer weiter
suchen um
ja nicht zu
verblassen
oder sich
selber
aufzulösen

in: BOZZETTO, 06/2014, S.14

* * *

um jeden preis

von der bildfläche
ist die pause
verschwunden
hinter werbung
um jeden preis
gilt der ausverkauf
aller einstellungen
für sender
gibt es zuschauer
im angebot


coûte que coûte

de l’écran
la pause a
disparu
sous la publicité
coûte que coûte
la liquidation de l’ensemble
des postes est en cours
sur les chaînes
il y a des téléspectateurs
en solde

in: LES CARNETS D´EUCHARIS, Carnet 2, 2014
aus: INS LEBEN DER RÄUME, 2006, S.8

Traduction en coopération avec Brigitte Gyr

* * *

zeilen zwischen
den stationen
widmest du
die halbe seite
dem gesicht
am fenster
platz wünschst du
wieder zu begegnen
spiegelfrei und
tränenklar für den
trost zwar
ungeeignet
für ein lächeln
raum genug


des lignes
entre les arrêts
tu dédies
la demi-page
au visage
à la fenêtre
tu désires
le recroiser
pas d’effet miroir
larmes claires
impropre à
la consolation mais
suffisamment de place
pour un sourire

in: LES CARNETS D´EUCHARIS, Carnet 2, 2014
aus: INS LEBEN DER RÄUME, 2006, S.13

Traduction en coopération avec Brigitte Gyr

* * *

gemälde

das blau
einer hortensie
tönt längst
verflossene
briefe als habe
eine kinderschürze
die tintenkleckse
gleich verwischt
aus angst
erinnerung könne
bleiben an erste
unbeholfene schrift


tableau

le bleu
d’un hortensia
colore
des lettres depuis
longtemps passées
comme si un tablier d’enfant
s’était empressé d’effacer
les taches d’encre
de peur que    
ne demeure le souvenir
de la gaucherie
des premiers écrits

in: LES CARNETS D´EUCHARIS, Carnet 2, 2014
aus: INS LEBEN DER RÄUME, 2006, S.14

Traduction en coopération avec Brigitte Gyr

* * *

gezeiten

einst war es
das meer
in allen fenstern
standen die wellen
kopf nun ist
es der himmel
hinter glas bricht
er mit licht
und farbe


marée

jadis il y avait
la mer
à toutes les fenêtres
il y avait des vagues
la tête est à présent
le ciel qui
derrière le verre rompt
avec lumièreet couleur

in: LES CARNETS D´EUCHARIS, Carnet 2, 2014
aus: INS LEBEN DER RÄUME, 2006, S.19

Traduction en coopération avec Brigitte Gyr

* * *

keine zeit

weil sie aufhören
wollen die jahre
zu zählen streichen sie
ziffern aus
dem gedächtnis
und haben keine zeit
mehr vor augen
die sich in tag und nacht
fassen ließe selbst
hell oder dunkel sehen sie
nicht länger sie tasten
sich haut an haut durch
ihr leben nur noch
zwischen kalt und
warm unterscheidend


pas le temps

parce qu’ils veulent
cesser de compter les années
ils rayent les chiffres
de leur mémoire
et n’ont plus
devant les yeux
un temps qui
se laisserait capturer
le jour et la nuit même
le clair ou le sombre
ils ne le voient
plus se tâtent peau à peau
leur vie durant
ne distinguant plus désormais
que le chaud du froid

in: LES CARNETS D´EUCHARIS, Carnet 2, 2014
aus: INS LEBEN DER RÄUME, 2006, S.20

Traduction en coopération avec Brigitte Gyr

* * *

zur haltbarkeit des datums

zweifel
an der haltbarkeit
des datums
werden beizeiten
ausgeschlossen
die dauer
sieht mindestens
ihr überschreiten vor
ausnahmen sind
in der regel
ungenießbar
und verfallen
mit sicherheit
dem glauben
an zukunft


durée de péremption

tout doute
quant à la durée
de péremption
éliminé
à temps
l’éventualité d’un
dépassement au moins
prise en compte
les exceptions
généralement
immangeables
compromettent
à coup sûr
la foi
en l’avenir

in: LES CARNETS D´EUCHARIS, Carnet 2, 2014
aus: INS LEBEN DER RÄUME, 2006, S.23

Traduction en coopération avec Brigitte Gyr

* * *

zu retten

durch alle meere
geschwommen
um seine haut
zu retten
unter wasser
geschlafen
um nicht
ertränkt
zu werden
die augen
mit salz
gebadet
um nicht
vor durst
zu erstarren
die lunge
von luft
entleert
um jeden ruf
zu ersticken
die arme
an land
geworfen
am ende
das herz
nachzuziehen


réussir à sauver

avoir parcouru
toutes les mers
à la nage
pour réussir à sauver
sa peau
dormi
sous l’eau
pour ne pas
se noyer
baigné
ses yeux
de sel
pour ne pas
se laisser engourdir
par la soif
vidé
ses poumons
de leur air
pour étouffer
les appels
projeté
ses bras
vers le bord
pour finalement
y traîner son
cœur

in: LES CARNETS D´EUCHARIS, Carnet 2, 2014
aus: INS LEBEN DER RÄUME, 2006, S.25

Traduction en coopération avec Brigitte Gyr

* * *

schliff des südens

blau
ist das einzige wort
in der farbe
des südens hängt es
am himmel und
schneidet den wind
in jeder richtung
zückt es
das segel
und gibt sich
als hintergrund
tiefenschärfe
so dass die augen
schutz suchen müssen
unter geschliffenem glas


affûtage du sud

bleu
est le seul mot
qui s’identifie à la couleur
du sud il s’accroche
au ciel et
coupe le vent
de partout
il sort
la voile
et se donne
pour arrière plan
une profondeur aiguisée
de sorte que les yeux
doivent chercher refuge
sous un verre affûté

in: LES CARNETS D´EUCHARIS, Carnet 2, 2014
aus: INS LEBEN DER RÄUME, 2006, S.33

Traduction en coopération avec Brigitte Gyr

* * *

du fährst
über stunden
entfernt sich
die zeit in blau
siehst du
rückwärts das meer
gießt fortwährend
öl in die wunde
und löscht
das feuer
bevor es brennt


tu roules
depuis des heures
le temps en bleu
s’éloigne
vois-tu
à l’arrière la mer
déverse sans répit
de l’huile sur la blessure
et éteint
le feu
avant qu’il ne brûle

in: LES CARNETS D´EUCHARIS, Carnet 2, 2014
aus: INS LEBEN DER RÄUME, 2006, S.35

Traduction en coopération avec Brigitte Gyr

* * *

überstürzt

wasser steigt
auch morgen noch
über den pegel
des vorstellbaren
möglichkeiten sind
schneller ertrunken
als mensch und tier
mit ihren ausufernden
schlägen selbst papier
schwimmt nicht länger
oben wenn sich geröll
überstürzt flutet
die landschaft aus


d´un coup

demain encore
l´eau dépassera
le niveau
de l’imaginable
les possibles
seront plus vite noyés
qu‘homme et bête
avec leurs gestes
démesurés même le papier
cessera de surnager
quand d’un coup
surgira l´éboulis
le paysage se répandra

in: LES CARNETS D´EUCHARIS, Carnet 2, 2014
aus: INS LEBEN DER RÄUME, 2006, S.36

Traduction en coopération avec Brigitte Gyr

* * *

mit abstand

was immer über ihnen
schwebte glich keinem
schwert und war nie
in gefahr zu stürzen
auf ihren kopf fiel
nur ein schimmer
weit entfernter
leidenschaft


avec distance

ce qui ne cessait de planer
sur eux ne ressemblait
à aucune épée et ne courait jamais
le risque de se renverser
seule tombait sur leur tête
la pure lueur
d’une très lointaine
passion

in: LES CARNETS D´EUCHARIS, Carnet 2, 2014
aus: INS LEBEN DER RÄUME, 2006, S.47

Traduction en coopération avec Brigitte Gyr

* * *

räume

häuser
hier
und da stehen
fenster offen warum
fragt sich
kein einziger
passant
springe ich
nicht hinein
ins leben
der räume


espaces

maisons
plantées ci
et là
fenêtres ouvertes pourquoi
ne se demande
aucun
passant
ne sauterais-je
pas
dans la vie
des espaces

in: LES CARNETS D´EUCHARIS, Carnet 2, 2014
aus: INS LEBEN DER RÄUME, 2006, S.52

Traduction en coopération avec Brigitte Gyr

* * *

Ernst Jandls Lesung in Freiburg, 22.4.1997

ein runder raum ja circus / atmosphäre unter dem chapiteau / an stelle hoher decke / eines stadttheaters das ausgerechnet / renoviert wurde als ernst jandl / zur lesung kam / ins zelt passte sein publikum / noch umso besser und / wippte mit den füßen / vor vergnügen wie eindringlich / und wie markant auch / dieser dichter las die / knappen verse intonierte / kaum konnte er fragmente / eines texts beenden da / stürmte der applaus / die bühne trampelten / sohlen auf die planken der / ausverkauften reihen entfesselt / den lyriker zum popstar / krönend zweifellos / doch sah er scheu / aus seine augen groß / unter den brillengläsern / als suche er fortwährend / zwischen zeilen nach / einem notausgang um schnellstens / so blass und rasch wie er / gekommen zu verschwinden / aus der arena  seiner fans

in: poesiealbum neu 01/2014, S.27

* * *

   
  Die tägliche Abwesenheit – L´Absence quotidienne

pour ne plus voir
la grisaille
du ciel
les hommes
s´embrument
d´images épaisses
par manque de couleur
ils peignent
le paysage
bien plus
soigneusement
qu´ils ravalent
depuis
toujours
ils se mettent
à dissoudre
les corps
en cellules
opaques
qui pâlissent
avec la vue

Traduction: Patricia Fiebig et Beate Thill

in: Le Journal des Poètes, N°4/ 2013, Belgien


um den himmel
nicht mehr zu sehen
grau in grau
nebeln die menschen
sich ein
mit dichten bildern
aus farblosigkeit
streichen sie
die landschaft
um vieles
gründlicher
als die fassaden
die sie
seit jeher
zu verhüllen
wissen
beginnen sie
die körper
aufzulösen
in undurchsichtige
zellen die
mit dem augenlicht
verblassen

in: Die tägliche Abwesenheit – L´Absence Quotidienne, S. 28, Trescher-Verlag Edition Fürsatz, Berlin 2002

* * *

Die tägliche Abwesenheit – L´Absence quotidienne

emprise

pour tuer
les minutes
l´enfant doit
pouvoir lire
l´heure avant de
maîtriser
la langue
pour
lutter contre
l´emprise
du temps

Traduction: Patricia Fiebig et Beate Thill

in: Le Journal des Poètes, Page 6, N°4/ 2013, Belgien


druck

zum totschlagen
der minuten
soll das kind
die uhr lesen
können bevor es
die sprache
beherrscht
um sich
gegen den druck
der zeit
zu wehren

in: Die tägliche Abwesenheit – L´Absence Quotidienne, S. 42, Trescher-Verlag Edition Fürsatz, Berlin 2002

* * *

Die tägliche Abwesenheit – L´Absence quotidienne

en face

et en face
rouge sur le banc
assis l´homme
dans la dernière lumière
avant que la nuit
ne l´emporte

Traduction: Patricia Fiebig et Beate Thill

in: Le Journal des Poètes, Page 6, N° 4/ 2013

* * *

gegenüber

und gegenüber
auf der bank sitzt
rot der mensch
im letzten licht
bevor die nacht
ihn mit sich nimmt

in: Die tägliche Abwesenheit – L´Absence Quotidienne, S.47, Trescher-Verlag Edition Fürsatz, Berlin 2002

* * *

blindes vertrauen

sie sehen die hand
vor augen
nicht mehr und
wissen doch
dass es sie gibt

in: Revue Alsacienne de Littérature N°120 (2) 2013, S. 55

* * *

aus jeder neuen nachricht
zieht sich die wolke
immer mehr zurück
von unserem blickfeld
der himmel beinahe
streifenfrei das gift
unsichtbar schmeckt
nur nach luft die
medien durchdringend
ein tod kommt immer vor
wenn er spektakulär ist
oder ein zahlenrekord
der langsames sterben
schnell in den hintergrund rückt

in: Revue Alsacienne de Littérature N°120 (2) 2013, S. 55

* * *

noch einmal
blau
die haare
zum himmel
die augen
ins meer
der text
ein schatten
ohne gewähr

in: Revue Alsacienne de Littérature N°120 (2) 2013, S. 55

* * *

alarm  
kann alles
sein die pause
im gespräch
das lachen
vor der tür
die farbe
einer schrift
sternzeichen’
ohne anleitung

in: Revue Alsacienne de Littérature N°120 (2) 2013, S. 55

* * *

wo mozart unterwegs war
gab es keine musik
außer in seinem ohr
so kam es dass er nie
einen vogel hören konnte
geschweige denn den schrei
des kindes das er einmal
selbst gewesen war
und ihm flossen die
melodien wie tränen
aus der kehle freude
und leid trugen ihn
durch ein stilles land

in: Revue Alsacienne de Littérature N°120 (2) 2013, S. 55

* * *

unaufhaltsam
doch die bäume
verkommen
nicht zum symbol
eine allee endet
in der enge
das rasen
der axt wann
zerspringen
die ringe
um den hals
der menschen

in: Levure littéraire, Numéro 8, 12/2013

* * *

im kinderwagen
lässt sich spielen
das tablet
für die jüngsten
nicht einmal
knopfdruck
touch genügt
die ganze welt
liegt schon
in babyhand

in: Levure littéraire, Numéro 8, 12/2013

* * *

das buch
hat mehr seiten
als es gibt
und findet
dennoch
kein ende

in: Levure littéraire, Numéro 8, 12/2013

* * *

du bist magnet
magnet bist du
im spiel um
glück klebst du
gleich fest am
ersten besten
regenbogen

in: Levure littéraire, Numéro 8, 12/2013

* * *

das verwunschene haus
wechselt den ort
jeder kann es betreten
sofern ihn schaudert
durch klaffende türen
leere aufspüren
die fenster zerbrochen
beschneidend den ausblick
das dach verfallen
vögel in scharen
auf den eindringling
lauernd

in: Levure littéraire, Numéro 8, 12/2013

* * *

sie ketten
die herzen an
brücken und
möchten sich
nie verlassen
werfen immer
mehr schlüssel
ins wasser
der fluss langsam
träge kommt
zum erliegen

in: Levure littéraire, Numéro 8, 12/2013

* * *

sogar die uhr
spielt
zeiger anhalten
es ist niemand da
sie zum laufen
zu bringen
wer wird nun
am ende
ihre zeit
gewinnen

in: Levure littéraire, Numéro 8, 12/2013

* * *

jubiläum

jubilieren angesagt/ der zeitpunkt zu feiern/ die jahre die vielen/ jahrzehnte nunmehr/ im erstaunen darüber/ noch immer zu sein/sogar fortzusetzen über diesen tag hinaus/ das ringen um atem/ als sei weiterhin luft/ die suche nach worten/ als spreche der mund/ auch in zukunft/ gemeinsam mit verschiedenen/ stimmen gegen vergessen/doch für ewige zweifel/ besonders an sich selbst/ in wachsender sorge/ zu leise zu sein womöglich/ sich beugend dem/ mangel an mut/ im verlust an farben/ und zugang zu menschen/ gefahr zu laufen/ auf der stelle zu treten/ ohrwurm zu werden/ der eigene text/ anstatt anzuecken/vereinnahmt bereits/ als letzter schrei/ jubilieren angesagt/ ob schrill ob bedächtig/ ausgelassen oder still/ anhalten einmal stop/ rot springt erst wieder/ direkt auf grün wenn/ die straße ein meer ist/ das den satz verschlingt/ und die augen sich/ werfen auf die andere seite

60 Jahre DIE KOGGE (Europäische Autorenvereinigung e.V.) in Minden

in: MATRIX 2/2013 (32)

* * *

unumstößlich

weltuntergangs
stimmung wächst
über die köpfe
der menschen hinaus
babel stand einmal
für das höchste
gebäude unumstößlich
das verlangen
nach den sternen
zu greifen koste es
auch die sprache
die den turm
zusammenhält
um den himmel
zu stürmen
bevor er sich
auf die erde
stürzt ohne
ein einziges wort
zu verlieren

in: Revue Alsacienne de Littérature N°119, (1) 2013, S. 96

* * *

keine geschichte
erzählen im
zeitraffer spricht
der stift von
der unmöglichkeit
anfang und ende
auseinanderzuhalten

in: Revue Alsacienne de Littérature N°119, (1) 2013, S.96

* * *

die frage
nach dem blatt
löst sich
vom baum
so gibt es
keine antwort
ohne stamm
nur vielleicht
wechsel
ihrer farbe
je nach jahreszeit

in: Revue Alsacienne de Littérature N°119, (1) 2013, S.97

* * *

wo von landschaft
die rede ist
erstreckt sich
erinnerung dem himmel
gleich der ein loch
in die wolken
bohrt zum heiteren
blau doch es steckt
keine absicht dahinter
wenn gewässer zu
blinden spiegeln werden
wechseln sich
schon die häuser mit
den hütten ab
wird aus dem ufer
die befestigung
gerissen und kopf
über hinein
heureux qui comme Ulysse*
an land gespült wo
oder wann wann
und für wie lange

*Chanson: George Brassens

in: Revue Alsacienne de Littérature N°119, (1) 2013, S.97

* * *

fest des tages

im paradies / gab es kein fest / zeitlos schön immer / lebens fülle nie ende / niemals hoch genuss / kein grund zu feiern / immer gleich die stimmung / ohne schwankungen bis / plötzlich alles ausgeschlossen / vertreibung und geburt der stunde / geburt des ersten menschen / kindes geburt / des wortes poesie / sehnsucht nach paradies / erweckt nach dem / verlorenen glücksgefühl / im sog von zeit druck eile hast / jede minute notgedrungen / wäre da nicht der augenblick / vom ersten wiegenfest / verbleibend erinnernd / freude über freude / ein fest das dasein / nunmehr teilend / mit anderen zeit- und / leidgenossen den sterblichen / vor dem vergehen / das leben noch / ein leben lang / zu feiern jeden tag / aufs neue


fête du jour

au paradis / jamais de fête / toujours intemporelle la beauté/ la vie remplie sans fin/ nulle volupté / nulle raison de fêter / l´humeur toujours égale /  sans variations jusqu`à / l´exclusion soudaine / expulsion et naissance de l´heure / naissance du premier homme / de l´enfant la naissance / du mot poésie / nostalgie du paradis / après l´éveil / bonheur perdu  / dans le tourbillon du temps pesanteur précipitation hâte / chaque minute forcément / s´il n´y avait pas l´instant /  du premier anniversaire / désormais la partageant / avec d´autres contemporains / compagnons mortels de souffrance / avant de disparaître / la vie encore / toute la vie / la fêter chaque jour / à nouveau

traduction: Eva-Maria Berg et Alain Fabre-Catalan

in: Revue Alsacienne de Littérature N° 119, (1) 2013, S. 54

* * *

unbedingt

spielen
mit der sprache
um sie nicht zu verlieren
als sei es einem gedicht ernst
mit dem wort und der kindheit
und der immer neue anfang
beginnt bei sich selbst
vom ersten schrei zum letzten
atem ihrem klang hinterher
den eigenen ton zu finden
bis auch sie endlich mitspielt
um den der nach ihr sucht
für sich zu
gewinnen


absolument

jouer
avec la langue
pour ne pas la perdre
comme si un poème prenait au sérieux
le mot et l´enfance
et le début toujours nouveau
commence par lui-même
du premier cri au dernier
souffle à la poursuite de sa tonalité
pour trouver son propre son
le temps qu´elle aussi enfin participe
au jeu pour gagner
à elle celui qui
la cherche

traduction avec Max Alhau


without fail

to play
with language
so as not to lose it
as though a poem took seriously
both childhood and the word
and the ever new beginning
that begins with oneself
from first cry to last
breathing out in pursuit of its own note
in search of one’s own voice
until at last
language joins in the game
to win over
the one on the hunt for it

translation: Donald Winkler

in: La Traductière N° 31, 2013, S. 22-23
Bild zum Gedicht: Eva Largo


* * *

am ende eines satzes

die metaphern sind ihrer bilder
beraubt und des erzählens
müde ein himmel hat auch
keinen gott mehr unterzubringen
und wer noch aufschaut
sieht keine linie mehr keine
idee wann wird das wort bestattet
anonym


à la fin d´une phrase

les métaphores sont privées
de leurs images et fatiguées
des narrations un ciel aussi
n´a plus de dieu à héberger
et celui qui lève encore les yeux
ne voit plus de ligne point d´
idée quand sera enterré le mot
en anonymité

in: verso 152, 03/2013

* * *

die sprache

übersetzt
das weiß
ertrinkt
in allen
farben
das leben
blutet
langsam
aus schläft
ein vom
traum
verfolgt

in: Levure littéraire, Numéro 7, 03/2013

* * *

im traum

schlaflos
die farbe
als male sie
weiter am bild
über nacht
entsteht
mindestens
ein museum

in: Levure littéraire, Numéro 7, 03/2013

* * *

vorsicht

um einen traum
zu bewahren
vor dem erwachen
die augen
offen halten
bei nacht
und bei tag

in: Levure littéraire, Numéro 7, 03/2013

* * *

das meer

schäumt
den kopf ein
die haare so
blau hieß
es einmal
im text nun
sehen die
augen blass
aus und grau
die schrift
der jahrzehnte
müde geworden
ein traum
strandet leise
wenn das ufer
versinkt

in: Levure littéraire, Numéro 7, 03/2013

* * *

nichts leichter als

zu tun was schwer ist
nichts schwerer als das leichte
zu unterlassen und kreisen kreisen
ohne aussicht auf einen
festen punkt dennoch
im gleichgewicht mit sich
selbst ruhelos und
ohne schlaf als sei
der traum ein traum

in: Levure littéraire, Numéro 7, 03/2013

* * *

zeichensprache

auch diesmal
fährst du
eine strecke
weiter und
was da kommt
das nimmt dich
ein durchs fenster
winkt schon
eine neue
aussicht
als fiele dir
der abschied
leicht

du siehst
die farben
plötzlich
anders
die zeichen
sprache ist
dir fremd
doch du
begrüßt das
unbekannte
und schwere
hält dir platz
bereit


langue des signes

cette fois aussi
tu vas
ta route
plus avant et
ce qui arrive
s’empare de toi
par la fenêtre
déjà te salue
une nouvelle
vue
comme si l’adieu
te semblait
léger

soudain
tu vois
les couleurs
autres
la langue
des signes
t’est étrangère
pourtant tu
accueilles
l’inconnu
et ce qui pèse
te garde une place
prête

Übersetzung mit Muriel Stuckel

in: Terres de femmes, 9e année, n° 99, 02/2013

* * *

bis in die letzten winkel der stadt

worauf warten
inmitten lärm ist zeit
nur die uhr zur vollen stunde
wenn anderswo zum gebet
gerufen wird läuten glocken
um die wette da schreit
sich das kind den hunger
nach zärtlichkeit aus der kehle
da kniet sich jemand
wund um hilfe zu erbetteln
wer weiß ob einer wirklich
bedürftig ist oder morgens
schon alles versäuft
hat jemand etwas gesagt
das gehör wird mit zunehmender
lautstärke schlechter und
die sprache verliert an
bedeutung für taube ohren
noch einen verstärker mehr
aufs minarett und in den kirchturm
automatische regler
dazu nachts lichtorgeln
bis in die letzten winkel der stadt


jusqu´aux derniers recoins de la ville

qu´est-ce qu´on attend
au beau milieu du bruit le temps
c´est seulement à chaque heure pleine
quand ailleurs on appelle
à la prière les cloches
rivalisent l´enfant
crie sa soif
de tendresse à pleines gorges
là un homme a les genoux meurtris
à force de mendier
comment savoir qui est vraiment
nécessiteux ou le matin
déjà a bu l´aumône
est-ce que quelqu´un a parlé
l´ouie avec le son qui
monte s´amenuise
la langue perd de sa
signification pour les oreilles sourdes
un amplificateur supplémentaire
sur le minaret et dans le clocher
un réglage automatique
avec en plus la nuit des orgues lumineuses
jusqu´aux derniers recoins de la ville

Übersetzung mit Patricia Fiebig

in: Recours au Poème, Sommaire 32, 01/2013

* * *

vorbei

die kleinigkeit
ein unterlassener
anruf ein vergessener
zugang zum internet
die unleserliche adresse
der fehlende
moment scheu
vor nähe über
flüssiges reden
schnelles ermüden
sowie ein geräusch
das keinen stört
beim ruhen

passé

le petit rien
un coup de téléphone
remis un accès
oublié à l´internet
l´adresse illisible
le moment
manquant intimité
par la proximité la
parole superflue
fatigue rapide
aussi bien qu´un bruit
ne dérangeant personne
au repos

Übersetzung mit Patricia Fiebig

in: Recours au Poème, Sommaire 32, 01/2013

* * *

bilder

am ende
wird aus bunt
schwarz-weiß
doch kein extrem
versuch in grau
sich nähernd
den nuancen
eines lebens
verkürzt von
tag zu tag
und immer
weniger
alltäglich


images

à la fin
la couleur devient
noir et blanc
sans radicalement
essayer le gris
se rapprochant
des nuances
d´une vie
écourtée de
jour en jour
de moins
en moins
quotidienne

Übersetzung mit Patricia Fiebig

in: Recours au Poème, Sommaire 32, 01/2013

* * *

manchmal flutet
das meer die wolken
kratzer und ein fuß
bricht sich den schuh
bevor ein weg
überflüssig erscheint
fliegt der stein
zurück auf den mond


quelquefois la mer
se heurte à des gratte-
ciels et un pied
brise sa chaussure
avant qu´un chemin
paraisse superflu
la pierre vole
de retour à la lune

Übersetzung mit Max Alhau

in: Recours au Poème, Sommaire 32, 01/2013

* * *

wieviel schichten
menschheit
sind überbaut wir
legen das ohr
auf den boden
erschüttert
wird jemand denn
uns nachspüren
und gibt es dann
dafür noch grund


sur combien de couches
d´humanité
a-t-on bâti nous
collons l´oreille
au sol
bouleversé
est-ce-que quelqu´un ferait aussi
des recherches sur nous
et y aura-t-il
encore une raison à cela

Übersetzung mit Max Alhau

in: Recours au Poème, Sommaire 32, 01/2013

* * *

   
  wie kann es um masken
gehen so haltlos
das wort ungeschminkt
der blick kein spiel
die szene ein vorhang
der nicht fällt

in: Revue Alsacienne de Littérature N° 118, (2)2012, S. 64

* * *

lärm kann
eine maske
sein die angst
zu tarnen
sagt jemand
mit leiser stimme
als fürchte er
sich selbst
zu verraten

in: Revue Alsacienne de Littérature N°118, (2)2012, S. 64

* * *

leben

das bild
haftet an ihr
doch ihr gesicht
wird nicht zur
maske mit
hohlen augen
sie öffnet
den blick
begierig
nach leben

en hommage à Romy Schneider

in: Revue Alsacienne de Littérature N°118, (2)2012, S. 65


vivre

l´image
adhère a elle
mais son visage
ne devient pas
un masque aux
yeux creux
elle ouvre
son regard
avide
de la vie

en hommage à Romy Schneider

Übersetzung mit Patricia Fiebig

in Kooperation mit der Künstlerin Eva Largo

* * *

inventur

wohin mit den silben/ die zeilen die seiten die texte und bücher überfüllen den raum/ lassen sich vielleicht zählen/ binden und stapeln/ sogar registrieren entgehen zugleich/ aller festlegung zur inventur/ schon spricht es sich weiter/ weiter leise laut schrill langsam schnell rasend/ niemals genug gedanken und töne/ zusammengetragen von verschiedensten/ stimmen ehemals jetzt demnächst/ eine jede sich sperrend gegen mögliche enge/ stellt infrage fragt und fragt/ immer von neuem wort für wort/ auf der suche/ ob zeugnis ob zuspruch zerwürfnis zumutung/ vision melodie poesie poesie

in: Poesiealbum neu. 02/2012, S. 13

* * *

jasmin oder kaffeesatz

der alte aufguss tee / und eine zeitung / in der fremden schrift / gedächtnisfrage / wo bist du / wie heißt das land / aus dem du kommst / wie heißt das land / in das du gehst / gedächtnisfrage / kannst du gehen / hast du gelernt / zu wissen was du tust / somit zu lesen auch / im kaffeesatz im / augenblick dich / zu erkennen suchend / ob sprachlos oder blind / eine geschichte / zu entwerfen eine / geschichte zu / durchleben und / immer zweifelnd / wo du stehst / und immer neu / der alte aufguss tee / jasmin / die fremdheit / einer nachricht / die fragen ins / gedächtnis brennt / vergehen um vergehen / gedächtnisfragen / an  dich selbst / zu allem was geschah / zu allem was geschieht / seit es dich gibt / und du / gefragt bist du

in: Recours au Poème, Sommaire 17-20, 09-10/2012
in: Revue Alsacienne de Littérature N° 117, 2012, S. 74
Hörprobe: Lesung 11.08.2012 (mp3 1,3 MB)


Jasmin ou marc de café

l’infusion de thé d´hier/ et un journal/ dans une écriture étrangère/ question de mémoire/ où es-tu/ comment s´appelle le pays/ d´où tu viens/ comment s´appelle le pays/ où tu vas/ question de mémoire/ peux-tu marcher/ as-tu appris/ à savoir ce que tu fais/ et à lire aussi/ le marc de café/ instantanément chercher/ à te reconnaitre/ soit sans parler soit sans voir/ une histoire à écrire une/ histoire à/ vivre/ toujours dans le doute/ où tu en es/ et toujours à nouveau/ l´infusion de thé d´hier/ le jasmin/ l´étrangeté/ d´une nouvelle/ le questionnement/ la mémoire la brûlure/ entorse après entorse/ questions de mémoire/ à toi-même/ à tout ce qui s´est passé/ à tout ce qui se passe/ depuis que tu existes/ et toi/ on te pose la question

traduction avec Patricia Fiebig

in: Recours au Poème, Sommaire 17-20, 09-10/2012


jasmine or coffee grounds

the old tea leaves/ and a newspaper/ in the foreign script/ question of memory/ where are you/ what is it called the country/ which you come from/ what is it called the country/ where you are going to/ question of memory/ can you go/ did you learn/ to know what to do/ so to read too/ in coffee grounds in/ this moment trying to/ recognize yourself/ if speechless or blind/ to create/ a history a/ history to/ live through and/ always doubting/ where you are/ and always anew/ the old tea leaves/ jasmine/ the foreignness/ of news/ which is burning/ questions into the memory/ offence after offence/ questions of memory/ to yourself/ to all that happened/ to all that happens/since your beginning/ and you/ are questioned you

translation: Yehuda Hyman

* * *

fassaden einer stadt

nicht mehr nötig über die mauer zu springen
im muster der geteilten köpfe rollen längst
die bahnen frei allerseits ohne grenze fassaden
deren frisches bunt schnell ablenkt von ihrem
gewicht für die menschen deren herz weiter schlägt
heillos beschwert heillos erleichtert gleichgültig
oder bloß müde inmitten ausufernder bauten
und mangelnder mittel für den eigenen bedarf
während straßenpflaster aufgerissen hier und
dort begradigt mit glattstrich bügelfalten
konform so ebenmäßig schließt dass nahezu
vergessen werden könnte an steinen führt
kein weg vorbei eine zeile aus dem
gedächtnis stellt sich immerzu quer

Berlin

in: Recours au Poème, Sommaire 17-20, 09-10/2012
in: Revue Alsacienne de Littérature N° 115-116, 2011


Façades d´une ville

plus la peine de sauter par-dessus le mur
selon le modèle de la partition des têtes depuis longtemps
voie libre sur les deux côtés sans frontière des façades
en couleurs ravivées qui détournent hâtivement
de leur poids sur les hommes dont le cœur continue de battre
infiniment lourd infiniment soulagé indifférent
ou simplement fatigué au milieu des bâtiments démesurés
et de manque du nécessaire
alors qu'ici le pavé est extirpé
là enterré et recouvert d'une couche lisse
conforme on pourrait presque
oublier il n´y a pas de chemin sans
pierres une ligne de la mémoire
s´ y pose toujours en travers

Berlin

traduction avec Patricia Fiebig

in: Recours au Poème, Sommaire 17-20, 09-10/2012

* * *

wenn der himmel
die augen bedeckt
nur noch ein tasten
egal wohin
wenn die hand
sich verletzt
nicht einen schritt
weiter die erde
dreht sich
vielleicht zurück

in: Recours au Poème, Sommaire 17-20, 09-10/2012


si le ciel
couvre les yeux
reste le toucher
qu´importe ici ou là
si la main
se blesse
plus un seul
pas la terre
peut-être tourne
en arrière

traduction avecPatricia Fiebig

in: Recours au Poème, Sommaire 17-20, 09-10/2012

* * *

die alten begriffe
himmel und erde
spiegeln sich noch
im wasser wieder
verschwommen
die konturen
die linien das muster
landüber himmelunter

in: Recours au Poème, Sommaire 17-20, 09-10/2012


les vieux concepts
ciel et terre
se reflètent encore
dans l´eau
estompant
les contours
les lignes le motif
ciel et terre sens dessus dessous

traduction avec Patricia Fiebig

in: Recours au Poème, Sommaire 17-20, 09-10/2012

* * *

Almería

reichtum dereinst oder
jetzt prallt ab an
hütten so viele
götter ein christus allah
früchte der macht
ein schleier entfernt
nach dem anderen
doch nun erdnah und flach
kunststoffplanen zum
hausen statt leben
ernten im verborgenen
für all jene wie mich
die einen festen
wohnsitz haben und reisen
können vorbei
am elend

in: Recours au Poème, Sommaire 17-20, 09-10/2012


Almería

la richesse autrefois ou
aujourd´hui ricoche
dans des cabanes tant de
dieux un christ allah
fruits de la puissance
un voile enlevé
après l´autre
mais maintenant près de la terre et plates
des bâches en plastique pour
végéter au lieu de vivre
récolter en cachette
pour tous ceux comme moi
qui ont un domicile
légal et peuvent
voyager à côté
de la misère

traduction avec Max Alhau

in: Recours au Poème, Sommaire 17-20, 09-10/2012

* * *

maßarbeit

ikarus weicht keinen millimeter
von seinem mythos ab
und trifft immer wieder
dieselbe absturzstelle
mittlerweile sind auch
die zuschauer geübt
und kommen erst
im letzten augenblick
um dabeizusein wenn
die flügel sich lösen und
körperlos noch etwas
schweben dem rumpfe
langsam hinterher

aus: MENSCHEN ENGE, 2009, S. 56
Hörprobe: Lesung 11.08.2012 (mp3 564 KB)
Musik: maßarbeit, Komposition von El Niño, 2012 (Aufnahme: Lesung 11.08.2012, mp3 550 KB)

* * *

keine brücke mehr
die menschen
gehen unter
im nebel
wohin
schwimmt
das gesicht
wenn augen
an farbe
verlieren

in: orte Nr. 170, Juni 2012, S. 22

* * *

am anfang

nein selbst ein stein
fliegt nicht
zurück in die hand
er schwimmt und
die augen tauchen
ein unter wasser
finden den atem
das gedächtnis der kiemen
so dass keiner ertrinkt
wenn das gedicht endet
vielleicht der leser beginnt
wort um wort aufzuspüren
nach tragkraft zu suchen
durch die eigene stimme
über den text
und ein ufer hinaus

in: La Traductière N° 30, 05/2012, S. 18


au début

non même une pierre
ne vole pas
de retour dans la main
elle flotte et
les yeux s´immergent
dans l´eau
ils y trouvent le souffle
mémoire des branchies
ainsi personne ne se noie
quand le poème finit
peut-être le lecteur commence-t-il
à glaner mot pour mot
à chercher une force d´appui
par sa propre voix
au-delà du texte
au-delà d´un rivage

traduction: Eva-Maria Berg et Max Alhau

dans: La Traductière N° 30, 2012, S.18
Link: Rezension in Recours au Poème
Link: "au début", Film von Cao Dan, 2012
Link: "au début", Aquarelle von Eric Meyer, 2012


in the beginning

no even a stone
does not fly
once back in the hand
it floats and
the eyes submerge
in water
there they find breath
memories of gills
so nobody drowns
when the poem ends
perhaps the reader begins
to glean word for word
seeking a buttressing strength
through his own voice
beyond the text
beyond a shore

translation: Donald Winkler

in: La Traductière N° 30, S.18

* * *

unverzüglich

verspätung
auf reisen schleppt
sich die zeit
eine strecke entlang
rast aber das herz
überholt den zug
um schneller
anzukommen
als möglich
sein kann

in: Poesiealbum neu. 01/2012, S. 29

* * *

   
  platz der stimmen

die cineasten thronen
nun überlebensgroß
kein blick zur oper
lenkt sie ab
von ihrem dialog
es mischt sich
in die stimmen
sprachvielfalt
mit accent vielleicht
nimmt jemand platz
mit eigenen geschichten
und fühlt sich
doch nicht fremd
film ab das leben
läuft fehlt nur
dass einer kommt
und eine arie singt

Place de l´Opéra, Toulon
Häuserfrontgemälde Fanny, Film von Marcel Pagnol

in: Revue Alsacienne de Littérature N° 115-116, 2011

* * *

ersatzlos

und wieder ist das meer
die grenze zwischen menschen
und wieder ist die grenze
nur geographisch da wo
aber räume fehlen allein
erinnerung lebt steht
meer vergessen nah
vergisst an land zu gehen


irremplacable

et de nouveau la mer est
la frontière entre les hommes
et de nouveau la frontière est là
uniquement géographique où
pourtant manquent les espaces et seul
le souvenir est vivace la mer
proche de l´oubli
elle oublie d´aborder

traduction: Antoine et Max Alhau
extrait d´un cycle de poèmes dans:
Europe N° 991-992, 2011


irreplaceable

and again is the sea
the frontier between men
and again is the frontier
only geographically clear
but no missing space alone
memory alive stands
the sea almost forgetting
forgetting to go ashore

translation: Yehuda Hyman

* * *

verewigt

damals war es ein spiel
für kinder schiffe
zu versenken je rascher
desto sieger inzwischen
sind sogar flieger
als ziel überholt wir
kreuzen die himmel noch
schneller und treffen
alle gestirne wie im traum
gewinnen wir weiter
an raum auch wenn
wir die zeit verlieren
zu früh sterben müssen
geschwinder als licht
liegen wir schließlich
unendlich weit vorn


immortalisé

c´était jadis un jeu
pour enfants de couler
des bateaux plus tu vas vite
meilleur vainqueur tu es entre-temps
même les avions sont comme cible
dépassés nous croisons dans les cieux
de plus en plus vite et
atteignons tous les astres
comme en rêve
nous continuons à gagner
de l´espace même si
nous perdons du temps
et devons mourir trop tôt
plus rapides que la lumière
nous serons enfin
infiniment loin en avant

traduction: Antoine Alhau et Max Alhau

extrait d´un cycle de poèmes dans:
Europe N° 991-992, 2011

* * *
   
 
frühling

frühling sagst du und blühst auf
trotz des winters taut auch
die sprache das eis
schmilzt im mund worte
verschwimmen noch vor den
gedanken ist wärme zu spüren
entfernt sogar schranken als sei
die letzte jahreszeit zu übergehen


printemps

„printemps“ dis-tu et tu t´épanouis
malgré l´hiver la langue aussi dégèle
la glace fond dans la bouche
des mots s´estompent encore
avant les pensées la chaleur
est perceptible supprime même
des barrières comme si l´on pouvait
franchir la dernière saison

Eva-Maria Berg traduit par l´auteur et Max Alhau

dans: La Traductière N°28, 2010
Link: "printemps", Film von Alexandru Pascu, 2010

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